Konsumwahn: "Moderne Form des menschlichen Jagdtriebs"
Der Kaufrausch bei der Eröffnung des Einkaufszentrums Alexa ist nicht krankhaft, sondern inzwischen der Normalzustand, sagt der Psychologe Thomas Fydrich.
taz: Herr Fydrich, dass Menschen um Nahrung oder Wasser kämpfen, ist eine Sache. Aber wie kommt es, dass Berliner sich um Unterhaltungselektronik kloppen wie in der Nacht zu Mittwoch?
THOMAS FYDRICH, 53, ist Professor für Psychotherapie an der Humboldt-Universität. Er arbeitet vor allem mit Angst- und Zwangspatienten.
Der Besucheransturm auf das Einkaufszentrum Alexa am Alexanderplatz hat am Donnerstag nachgelassen. Die Situation um das Warenhaus blieb am Tag nach der tumultartigen Eröffnung ohne Zwischenfälle, so die Polizei. Rund 5.000 Menschen hatten am Mittwoch um Mitternacht das Einkaufszentrum gestürmt, um bei der vorgezogenen Eröffnung eines Elektronikmarkts Schnäppchen zu ergattern. Dabei ging eine Scheibe zu Bruch; einige Kunden sowie Mitarbeiter eines Wachdienstes wurden leicht verletzt. Das Alexa bietet rund 180 Läden.
Thomas Fydrich: Das liegt nicht an den Berlinern, sondern am Marketing der Industrie mit ihren Sprüchen wie "Geiz ist Geil" und "Ich bin doch nicht blöd". In unserer Gesellschaft sind alle Grundbedürfnisse gestillt. Deshalb funktioniert Werbung für unnötige Statussymbole so gut.
Manipuliert derartige Werbung die Menschen?
Ja, man kann von Manipulation sprechen. Denn es werden Bedürfnisse geweckt beziehungsweise verstärkt, die eigentlich nur gering ausgeprägt sind.
Sind Menschen, die sich nachts mit tausenden anderen um Handys und Fernseher kloppen, psychisch gestört?
Nein. Von einer psychischen Störung kann man hier nicht sprechen. Da mag der eine oder andere Verrückte dabei sein. Aber dieser Ansturm ist heute fast normal. Trägt man einen günstigen Fernseher aus dem Laden, zeigt man: "Ich bin dabei gewesen, habe Beute gemacht." Das ist eine moderne Form des menschlichen Jagdtriebs.
Welche psychologischen Mechanismen wirken, wenn sich Menschen derart in den Konsumrausch steigern, sich drängeln und schubsen, bis sie mit Schwächeanfällen ins Krankenhaus müssen?
Die Dynamik entsteht in dem Moment, wenn ich vor dem Tor stehe. Keiner geht dort in der Absicht hin, sich zu prügeln. Man denkt: "Wenn so viele da hin gehen, dann muss ich das auch machen. Ich will dazugehören, mitreden können, cool sein." Die Aufwertung der eigenen Person spielt dabei eine wichtige Rolle. Wenn ich dann schon da stehe und lange gewartet habe, dann will ich auch wirklich rein. Dass Verletzungen auftreten, dass es eskaliert - das sind Organisationsfehler.
Woran liegt es, dass aus neugierigen Nachtshoppern rücksichtslose Schnäppchenjäger werden?
Zum einen gibt es Menschen, die in relativer Armut leben und die auf Schnäppchen angewiesen sind, wenn sie diese Luxusgüter haben wollen. Je schmaler das eigene Budget, desto anfälliger ist man für diese Art Werbung. Aber auch die gut situierte Hausfrau oder der studierte Jurist begeben sich auf Schnäppchenjagd. Für die ist es eine Art Sport. Aber da geht es eher um den Nervenkitzel, etwas besonders günstig zu bekommen, um die Spannung, den Reiz - wie beim Glücksspiel.
Auch nach der Eskalation in der Eröffnungsnacht ist der Besucherandrang im Einkaufszentrum Alexa nicht abgerissen. Warum?
Dieser Vorfall hat sicher dazu beigetragen. Eine bessere Werbung kann sich dieser Elektronikmarkt doch gar nicht wünschen. Man kann zwar sagen, was die machen, ist unethisch. Doch das ist ein Geschäftsgebaren, das auf die einfachsten Strukturen unserer Psyche abzielt. Sogar Menschen werden in Gefahr gebracht. Aber allein die Tatsache, dass alle Zeitungen davon berichten, zeigt: Negative Werbung ist auch Werbung. Der Vorfall bringt dem Geschäft eher mehr Kunden als weniger.
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