Konstituierung des neuen Bundestags: Die Herausforderung
Der Tag, an dem sich der 19. Bundestag konstituiert, kann zu beidem taugen: als Beunruhigung, was die kommenden vier Jahre angeht. Aber auch als Ermutigung.
Küsschen und Umarmungen, Selfies und Schulterklopfen. Und oben von der Besuchertribüne schäkert Jörg Meuthen mit seinen Leuten. Daumen hoch, wir sind drin! Die Siegestrunkenheit ist nur mäßig kaschiert. Das ist auch nicht der Plan.
Klar ist, die AfD will provozieren. Als „gäriger Haufen“ wolle man die „Altparteien“ herausfordern, hat der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland die Marschrichtung in seiner raunenden Rhetorik umrissen. Und man muss sich da auch nichts vormachen. Die parlamentarische Demokratie in diesem Land mag eine stolze sein; ihre bisherigen Vertreterinnen und Vertreter lassen es an Selbstbewusstsein nicht mangeln.
Aber ob sie auch eine wehrhafte Demokratie gegenüber Geschichtsrevisionisten und Fremdenfeinden zu sein vermag, wie 83 Prozent der WählerInnen das erhoffen, wird sich erweisen müssen. Und zwar nicht nur an diesem Oktoberdienstag, sondern an jedem Tag dieser 19. Legislaturperiode. Also auch dann, wenn die Kameras aus sind.
Kleines Gerangel zu Beginn
Die konstituierende Sitzung beginnt – nach der wenig inspirierenden Rede des altgedienten FDP-Politikers Hermann Otto Solms – mit einem kleinen Gerangel. Carsten Schneider, neuer Fraktionsmanager der Sozialdemokraten, bringt den Antrag ein, heute die Regeln für die Regierungsbefragungen zu verändern. Der Bundestag müsse wieder zur Bühne für echte politische Auseinandersetzungen werden, sagt er, die Kanzlerin solle sich viermal im Jahr den – nicht abgestimmten – Fragen der Abgeordneten stellen. Tatsächlich waren diese Befragungen in der Vergangenheit an demonstrativem Gleichmut kaum zu toppen.
„Der Bundestag braucht neue Regeln“, sagt also Schneider. Dann ein Frontalangriff auf die Kanzlerin: „Ihr Politikstil, Frau Merkel, ist ein Grund dafür, dass wir heute eine rechtspopulistische Partei im Bundestag haben.“ Die AfD-Abgeordneten sind begeistert. Genau das ist es, was sie sich wünschen: Uneinigkeit. Doch das Gegenteil, nämlich Differenzen zu kaschieren, wäre für den Parlamentarismus weit verheerender.
Wolfgang Schäuble
AfD-Mann Bernd Baumann forderte in seinem Geschäftsordnungsantrag, zur alten Gepflogenheit zurückzufinden, den an Lebensjahren ältesten Abgeordneten zum Alterspräsidenten zu machen. Das wäre der Ultrarechte Wilhelm von Gottberg gewesen. Um den 19. Bundestag nicht gegebenenfalls von einem AfDler eröffnen zu lassen, hatten die Abgeordneten noch kurz vor der parlamentarischen Sommerpause die Geschäftsordnung geändert. Nun ist der dienstälteste Politiker Alterspräsident. Der heißt Wolfgang Schäuble, wird aber von Herrmann Otto Solms vertreten, weil Schäuble als Bundestagspräsident kandidiert.
Von nun an öfter gemeinsame Sache von SPD und Linke
Seit 1848 in der Paulskirche sei es in Deutschland Tradition, dass das älteste, nicht das dienstälteste Mitglied die Versammlung eröffne, schimpft also der AfD-Abgeordnete Baumann. Nur einmal sei diese Regel gebrochen worden: als 1933 Reichstagspräsident Hermann Göring „politische Gegner ausgrenzen wollte, damals Clara Zetkin“. Was so nicht ganz stimmt: Tatsächlich hatte die Kommunistin Clara Zetkin 1932 den Reichstag als Alterspräsidentin eröffnet, war allerdings 1933 nicht mehr die älteste Parlamentarierin im Reichstag.
Der AfD-Abgeordnete Baumann fährt fort: „Es beginnt eine neue Epoche. Von dieser Stunde an werden hier Themen neu verhandelt.“ Es ist dies der Grundton der Partei: die eigenen Leute werden als Mobbing-Opfer der „Altparteien“ dargestellt, notfalls indem man die mit Nazis gleichsetzt; das Ganze gekleidet in drohende Rhetorik.
Am Ende stimmt die ja eigentlich erst noch zu bildende Jamaika-Koalition geschlossen gegen sämtliche Geschäftsordnungs-Anträge von SPD, der Linken und AfD. Erste Lektion: SPD und Linke werden von nun an öfter als früher gemeinsame Sache machen müssen; auf die machtflexiblen Grünen können sie nicht länger hoffen. Zweite Lektion: Wenn es dem eigenen Opferstatus nützt, stimmt die AfD auch mit den anderen Oppositionsparteien.
Nur zwei fraktionslose Parlamentarier enthalten sich an diesem Dienstag. Es sind die frühere AfD-Vorsitzende Frauke Petry und der NRWler Mario Mieruch; die Bundestagsverwaltung hat den beiden in der allerletzten Reihe zwei Stühle hingestellt.
Eine fulminante Rede
Um 13.15 Uhr beginnt Wolfgang Schäuble zu sprechen. Er ist zuvor in geheimer Wahl mit 501 Stimmen gewählt worden; bei 173 Neinstimmen und 30 Enthaltungen. Der 75-Jährige ist gefasst, seine Stimme knarzt wie immer, als er feststellt, dass der Präsident sein Mikrofon selbstständig anschalten muss. „Muss ich selber drücken?“, ist deshalb auch sein allererster Satz im neuen Amt. Schäuble lacht leise. „Aller Anfang ist schwer.“
Es ist dies sein xter Anfang. CDU-Vorsitzender, Minister, jetzt halt Bundestagspräsident – in seinen 45 Jahren als Abgeordneter hat er schon vieles gemacht und erlebt. Er hat Leute kommen und wieder gehen sehen, etwa Helmut Kohl, mit dem ihn einst eine Freundschaft verbunden hat. Schäuble aber blieb. Zuletzt war er Angela Merkels so loyaler wie kritischer Bundesfinanzminister – es gibt wenige, die beides glaubhaft verbinden können. Dass nun ausgerechnet Schäuble, der zur Jahrtausendwende die CDU-Spendenaffäre mitverantwortet hat, als Bundestagspräsident die Parteienfinanzierung kontrolliert, ist nicht frei von Ironie, die dem Amtsinhaber kaum entgangen sein dürfte.
Schäuble hält an diesem Dienstag seines Amtsantritts eine gute, eine sehr gute Rede. Er schafft es tatsächlich, jenes Maß an Würde zu vermitteln, das die parlamentarische Demokratie nach dem zurückliegenden Wahlkampf dringend braucht. In den zweiundzwanzig Minuten mahnt er vor allem Respekt vor den Mehrheitsentscheidungen des Parlaments an. Dessen Beschlüsse dürften nicht mit Prädikaten wie illegitim oder verräterisch verächtlich gemacht werden, sagt er. In letzter Zeit seien Töne der Verächtlichmachung und Erniedrigung laut geworden, die kein zivilisiertes Miteinander möglich machten.
Selbstverständlich sei für das Erreichen von Entscheidungen Streit notwendig. Aber auch Kompromissfähigkeit und Regeln. Dazu gehöre Fairness. „Prügeln sollten wir uns hier nicht.“
Albrecht Glaser gescheitert
Ohne die AfD zu nennen, widmet sich der neue Bundestagspräsident deren reklamiertem Anspruch, wahlweise „das Volk“ zu vertreten beziehungsweise sich „unser Volk zurückholen“ zu wollen, wie Partei- und Fraktionschef Gauland es formuliert hat. „Wir sind alle, wie Artikel 38 GG sagt, Abgeordnete des ganzen Volkes“, sagt Wolfgang Schäuble. „Niemand aber, niemand vertritt alleine ,das' Volk. So etwas wie ,Volkswille‘ entsteht überhaupt erst in und mit unseren parlamentarischen Entscheidungen.“ Bei den 92 AfD-Abgeordneten rührt sich keine Hand zum Applaus, um so lauter ist er von den anderen ParlamentarierInnen zu hören. Alice Weidel klopft derweil ungeduldig mit ihrem Stift auf den Tisch, Alexander Gauland wirkt so versunken, dass ein Nickerchen nicht ausgeschlossen scheint.
Gegen Ende seiner Rede richtet Schäuble noch einmal den Fokus auf Deutschland in der globalisierten Welt, auf die Ängste der BürgerInnen bei gleichzeitiger Hingezogenheit zu festen Werten. „Den Weg einer selbstbewussten Einordnung in immer weitere Zusammenhänge zu finden, mit dem Ziel, dazu beizutragen, in dieser Welt unsere Zukunft zu gestalten“, beschreibt er die Aufgabe, der dieses Land gerecht werden müsse. Und dann: „Dass wir uns in solcher Öffnung und Einordnung noch selbst erkennen; dass wir bleiben, was wir doch fühlen, das wir sind – im Guten, wie zum Beispiel unserer parlamentarischen Ordnung, wie im Schlechten, das wir als nationale Schicksalsgemeinschaft nicht werden abstreifen können und aus dem wir immer wieder neues Gutes zu entwickeln uns bemühen –, dass wir das alles bleiben, ohne uns abzuschotten und uns bequem rauszuhalten, darum geht es.“
Als Schäuble um 13.37 Uhr endet, beginnt der nächste und schwierigere Teil dieses Sitzungstages: die Wahl der sechs StellvertreterInnen. Für das Amt haben sich Hans-Peter Friedrich von der CSU, der ehemalige SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, Wolfgang Kubicki von den Liberalen, die Grüne Claudia Roth sowie Petra Pau von der Linke-Fraktion aufstellen lassen. Alle fünf werden gewählt; Oppermann allerdings mit einem miserablen Ergebnis von nur 396 Stimmen. Notwendig waren 355 Jastimmen.
Die AfD hat Albrecht Glaser für das Amt des Vizepräsidenten nominiert. Wegen islamkritischer Äußerungen ist der 75-Jährige sehr umstritten. Im ersten Wahlgang fällt er mit 115 Stimmen durch, im zweiten Wahlgang kommt er auf 123 Stimmen, im dritten erhält er nur 114 Stimmen. Nun entscheidet der Ältestenrat über das weitere Verfahren. Die AfD-Fraktion kann einen neuen Kandidaten vorschlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts