Konstituierung des Bundestags: Heute wird Olaf Scholz entlassen
Der neue Bundestag tritt erstmals zusammen. Dabei wird es feierlich – doch bei einem Tagesordnungspunkt dürfte es Ärger geben.
Das Grundgesetz schreibt vor, dass das neue Parlament spätestens 30 Tage nach der Wahl erstmals zusammentreten muss. Der nun gewählte Termin ist der letztmögliche.
Linke-Politiker Gysi eröffnet Sitzung als Alterspräsident
Als Gregor Gysi 1966 in der DDR den Abschluss als Facharbeiter für Rinderzucht machte und im Dezember 1989 zum Vorsitzenden der SED im zerfallenden zweiten deutschen Staat gewählt wurde, konnte er sich wohl kaum vorstellen, einmal als Alterspräsident des Deutschen Bundestages eine Wahlperiode zu eröffnen. Nun wird er es tun und in die Fußstapfen des inzwischen gestorbenen Wolfgang Schäuble (CDU) treten.
Alterspräsident ist das Mitglied des Bundestages, das die meisten Abgeordnetenjahre vorweisen kann. Seine Aufgabe ist es, die erste Sitzung bis zur Wahl eines neuen Bundestagspräsidenten oder einer Bundestagspräsidentin zu leiten. Dazu gehört es, in Abstimmung mit den Fraktionen die Schriftführer zu ernennen. Üblicherweise hält der Alterspräsident auch eine Rede.
Vorgänger Schäuble mahnte faire Debatten an
Schäuble etwa mahnte im Oktober 2021 die „lieben Kolleginnen und Kollegen“, das Parlament als politische Bühne und nicht bloß als notarielle Veranstaltung zum Abarbeiten von Koalitionsverträgen anzusehen. „Hier ist der Ort, an dem wir streiten dürfen, an dem wir streiten sollen, aber fair und nach Regeln, leidenschaftlich, aber auch mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann.“
Und Gysi? Sicherlich werde er etwas zur Außenpolitik sagen und auch zur Situation unserer Gesellschaft, verriet der 77-Jährige der Wochenzeitung Das Parlament. Und: „Vielleicht werde ich auch einige Vorschläge unterbreiten, was man überparteilich mal miteinander besprechen müsste. Denn was wir wirklich brauchen, ist mehr echter Diskurs und weniger Schaukämpfe.“
Bundestag beschließt neue Geschäftsordnung
Klingt ein wenig dröge, ist es aber nicht: Der Bundestag wird als einen der ersten Beschlüsse eine Geschäftsordnung verabschieden. Sie ist so etwas wie das Betriebshandbuch für das Parlament und enthält viele Bestimmungen für dessen Arbeit – etwa zu Redezeiten, der Einberufung von Sitzungen, dem Festlegen von Tagesordnungen oder Verhaltensregeln für Abgeordnete und Ordnungsmaßnahmen. Dabei geht es auch um Machtfragen.
In der Regel übernimmt der neue Bundestag die Geschäftsordnung des alten Parlaments. 2021 verlangte die AfD jedoch Änderungen. Das löste eine längere Geschäftsordnungsdebatte aus, blieb aber erfolglos.
Wahl des neuen Bundestagspräsidenten als Höhepunkt
Die Wahl der neuen Bundestagspräsidentin oder des Bundestagspräsidenten ist zweifellos der Höhepunkt jeder konstituierenden Sitzung – auch wenn diese Personalie längst vorher geklärt wurde. Das Vorschlagsrecht für diesen Posten hat traditionell die stärkste Fraktion, diesmal also die CDU/CSU. Sie hat die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner für das Amt nominiert.
Die CDU-Politikerin wird nach Annemarie Renger (SPD), Rita Süssmuth (CDU) und Bärbel Bas (SPD) erst die vierte Frau in diesem Amt sein, das protokollarisch das zweithöchste nach dem Bundespräsidenten ist.
Klöckner saß schon von 2002 bis 2011 im Bundestag und war seit 2009 auch Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium. Anschließend wechselte sie in die Landespolitik ihrer Heimat Rheinland-Pfalz und versuchte dort zweimal vergeblich, Ministerpräsidentin zu werden. Bei der Bundestagswahl 2017 meldete sie sich in Berlin zurück und war dann bis 2021 Bundeslandwirtschaftsministerin im Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
Die gelernte Journalistin gehörte zwischen 2012 und 2022 zur Riege der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und war bis zu ihrer Nominierung Bundesschatzmeisterin. Im alten Bundestag war sie wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion.
Neues Amt wird Herausforderung für Klöckner
Das neue Amt dürfte zu einer großen Herausforderung für Klöckner werden. Der Umgangston im Bundestag ist seit dem Einzug der AfD 2017 erheblich rauer geworden, wie alle anderen Fraktionen beklagen.
Deutlich wird dies zum Beispiel daran, dass die Zahl der an Abgeordnete erteilten Ordnungsrufe in der nun zu Ende gehenden 20. Wahlperiode nach Angaben der Bundestagsverwaltung auf 134 emporschnellte – in der 19. Wahlperiode waren es nur 49 gewesen. Allein 85 dieser Ordnungsrufe kassierten Mitglieder der AfD-Fraktion. Die scheidende Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) kritisierte denn auch, dass manche Abgeordnete Ordnungsrufe wie Trophäen sammelten und im Internet vorführten.
Auch unterhalb der Schwelle von Zwischenrufen, die mit Ordnungsrufen geahndet werden können, ist der Umgang im Bundestag rüder geworden. Weibliche Abgeordnete beklagen zum Beispiel sexistische Sprüche – auch diese kommen stark aus den Reihen der AfD. Deren Fraktionsstärke hat sich mit der Bundestagswahl verdoppelt – was nicht für ruhigere Zeiten spricht.
Dauerstreitpunkt Vizepräsidentenposten für die AfD
Nach der Wahl der Bundestagspräsidentin werden auch ihre Stellvertreter bestimmt. Die Unionsfraktion nominierte die CSU-Innenpolitikerin Andrea Lindholz, die SPD-Fraktion die bisherige Parlamentarische Geschäftsführerin Josephine Ortleb und die Linke-Fraktion den früheren thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Bei den Grünen setzte sich der einstige Parteichef Omid Nouripour in einer Kampfabstimmung durch.
Da üblicherweise die Fraktionen die Vorschläge der anderen Fraktionen unterstützen, gilt ihre Wahl als sicher. Darauf kann der AfD-Kandidat Gerold Otten nicht hoffen. Noch nie hat eine Kandidatin oder ein Kandidat der AfD für den Vizeposten bei den Abstimmungen die nötige Stimmenanzahl bekommen. So dürfte es wohl auch jetzt wieder kommen. Nach der Geschäftsordnung des Bundestages kann die AfD dann zwei weitere Wahlgänge durchsetzen.
Bundespräsident setzt Schlusspunkt unter den Tag
Auf den absehbar vollen Tribünen im Reichstagsgebäude wird auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sitzen. Ihm kommt an diesem Tag aber noch eine eigene Rolle zu. Nach Artikel 69 des Grundgesetzes endet die Amtszeit des Bundeskanzlers und seiner Ministerriege mit dem Zusammentreten des neuen Bundestages.
Also werden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und sein Kabinett am späten Nachmittag von Steinmeier die Entlassungsurkunden erhalten. Zugleich wird er sie bitten, bis zur Ernennung von Nachfolgern die Geschäfte weiterzuführen – wozu sie verpflichtet sind. Auch das regelt Artikel 69.
Diese geschäftsführende Bundesregierung hat prinzipiell dieselben Befugnisse wie eine reguläre. Denn Deutschland soll nach innen wie nach außen voll handlungsfähig bleiben. Allerdings muss eine geschäftsführende Regierung nach Auffassung von Verfassungsrechtlern größtmögliche politische Zurückhaltung zeigen. Es geht in dieser Übergangszeit also mehr um Politikverwaltung als um Politikgestaltung.
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