Konservative Kulturkritik: Die Hysterie der anderen
Wer "Hysterie" ausspricht, glaubt, nicht selbst hysterisiert werden zu können. Deshalb eignet sich das Wort als Tarnkappe für eine neu aufgelegte konservative Kulturkritik.
Ist es spießig, die Inflation bestimmter Worte zu beklagen? Vielleicht schon. Andererseits: "Ein bisschen mehr Bedeutung wäre manchmal schön", schrieb Max Goldt angesichts des wahllosen Einsatzes von Worten wie "depressiv" oder "Zynismus". Top-Kandidat für Alltagssprachkritik dieser Spielart wäre in letzter Zeit die "Hysterie" gewesen.
Die Anti-Atom-Kraft-Bewegung und die Venedig-Biennale, die Ehec-Angst und die deutsche Ai-Wei-Wei-Debatte: All das und noch mehr bekam das Label verpasst. Auch wenn der Vorwurf unterschiedlich prominent platziert war, ist er das allseits bereite Passepartout, sobald die Repräsentanten der puren Vernunft sich von Irrationalem bedroht fühlen. Wenn man so will, "hysterisch" klingt die Diagnose - dass diejenigen, die sie parat haben, selbst genauso gut Objekt dieser Zuschreibung werden könnten, wird dabei unterschlagen. Hysterisch sind immer die anderen.
Ausdruck des Unbewussten
So selbstverständlich sie in den Mund genommen wird, so rätselhaft ist sie bis heute. In seinem 1976 in Frankreich und 1983 auf Deutsch erschienenen Buch "Die unerhörte Botschaft der Hysterie" (Lhystèrique, le sexe et le médecin) schrieb Lucien Israël: "Die Hysterie kann nicht mehr in die sicheren Schranken der Krankheit verwiesen werden. Man muss sie als Ausdrucksform des Unbewussten verstehen, deren Botschaft weder dem bekannt ist, von dem sie ausgeht, noch dem, der sie empfängt."
Bestimmt wäre es verwegen, jetzt ein paar hundert Jahre Hysterieforschung fortschreiben zu wollen. Stattdessen darf aber die Frage gestellt werden, was die "unerhörte Botschaft" der allgegenwärtigen Hysterie-Diagnose sein mag. Welche Geheimnisse teilt sie über den Sprecher selbst mit, was ist das rhetorische Unbewusste dieses Sprachgebrauchs? Offenbar haben wir es hier mit dem Sprechakt des Banns zu tun: Wer "Hysterie" proaktiv ausspricht, glaubt unausgesprochen, nicht selbst hysterisiert werden zu können, ähnlich wie derjenige, der alles und jeden "schwul" nennt, insgeheim vor queerem Begehren gefeit zu sein hofft.
Doch was genau soll mit dem H-Wort gebannt werden? Die ein oder andere Spekulation ist hier legitim. Im Sinne klassischer Sexismuskritik liegt die Vermutung nahe, dass es immer noch auch um die Abwehr des "Weiblichen" und vermeintlich Weichlichen geht - also etwa derjenigen, die sich vor Ehec und Atom ängstigen und nicht stramm genug durchs Leben gehen. Anzunehmen ist aber auch, dass die Hysterie-Unterstellung eine Ausdrucksform des topaktuellen Authentizitäts-Imperativs ist, weil sie alles Uneigentliche und Künstliche (ver-)bannt.
Wandelbare Erklärungen
Seit jeher steht die Hysterie ja unter Simulationsverdacht, ihre wuchernden Symptome galten schon im 19. Jahrhundert als theatralisch, die Hysterikerin als eine Art Verwandlungskünstlerin und Meisterin der Inszenierung. Hysterie vollzieht sich immer im Modus des "too much", als Selbstverausgabung und Selbstverlust. Wer sie abwertend benutzt, will zurück zum unverfälschten, authentischen Selbst, zu einem identitären Subjekt, das nicht geactet ist, nicht spielt und Glauben macht. Da der/die Hysteriker/in aber radikal an seiner/ihrer Identität zweifelt, soll damit zugleich ein subversives, Unordnung stiftendes Potenzial gebannt werden.
Während ihrer Hochzeit im 19. Jahrhundert galt die unberechenbare Hysterikerin als das Gegenmodel zur bürgerlichen Moral; die postmoderne Literaturtheoretikerin Julia Kristeva konzeptualisierte sie später als eine Figur, welcher der Eintritt in die symbolische Ordnung nicht vollständig gelingt. Wer etwas gegen Hysterie hat, sehnt sich danach, dass alles geordnet ist und wir bleiben was wir sind.
Geradezu ideal eignet sich das Hysterie-Lamento deshalb als Tarnkappe für eine neu aufgelegte konservative Kulturkritik, deren Wortführer einen versteckten Abwehrkampf gegen Unechtes und Uneigentliches führen. Nicht umsonst wird die Hysterie in den einschlägigen Leitartikeln meist als etwas künstlich vom Medienbetrieb Erzeugtes denunziert. Doch kann es dann noch ein Außen der Hysterie geben?
In ihrem Buch "Das verknotete Selbst" weist die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen darauf hin, dass eine "Befragung der Hysterie" zu einer "Hysterisierung des Deutungsprozesses" führt und "die Erklärungen, die dabei präsentiert werden, ebenso wandelbar sind wie das hysterische Symptom selbst". Dann aber wären auch die selbstgewissen Hysteriediagnostiker vor Heimsuchungen nicht sicher. "Wir sind alle hysterisch", schrieb Lucien Israël denn auch. Der Dauereinsatz wäre schließlich doch gerechtfertigt, die Allerweltsdiagnose allerdings ohne diagnostischen Wert.
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