Konjunktur in Europa: Gegensätzliche Rekorde
Der Arbeitsmarkt in Deutschland boomt. Frankreich jedoch leidet unter hoher Erwerbslosigkeit und fordert mehr Investitionen.
PARIS/BERLIN taz | Es war eine Gratwanderung für den deutschen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Die Wirtschaft wächst in diesem Jahr mit 1,5 Prozent stärker als erwartet. Nicht nur die Exporte boomen, angeheizt durch den niedrigen Eurokurs, weiter; auch die Binnennachfrage zieht aufgrund steigender Löhne und sinkender Ölpreise an. Und mit knapp 43 Millionen Erwerbstätigen hat das Land zum achten Mal in Folge einen neuen Beschäftigungsrekord erreicht.
Doch in allzu lauten Jubel brach SPD-Chef Gabriel nicht aus, als er am Mittwoch den Jahreswirtschaftsbericht präsentierte. Stattdessen sprach er nur von einer „relativ robusten Entwicklung der deutschen Wirtschaft“ und warnte davor, das Wachstum als „gesetzt und gegeben hinzunehmen“.
Dabei dürfte nicht nur die echte Sorge eine Rolle gespielt haben, dass sich die günstigen Bedingungen wieder ändern können. Vermutlich ahnte Gabriel auch, dass ein zu offenes Auftrumpfen den Ärger über Deutschland im Rest Europas noch weiter angeheizt hätte. Denn während in Berlin die guten Konjunkturzahlen präsentiert wurden, gab es etwa aus Paris ganz andere Spitzenwerte zu vermelden.
Zum Jahreswechsel verzeichnete das Land ein Rekordniveau von fast 3,5 Millionen registrierten Vollzeitarbeitslosen, was eine Zunahme von 5,7 Prozent bedeutet. Damit setzt sich der Trend fort, dass die Zahl der Stellensuchenden Monat für Monat zunimmt. Und trotz eines leichten Wirtschaftswachstums und diverser Beschäftigungsprogramme ist ein rasches Ende dieser laufenden Zunahme auch in diesem Jahr nicht in Sicht.
Drastischer Schuldenabbau
Verantwortlich dafür machen viele Französinnen und Franzosen nicht nur die Politik ihrer eigenen Regierung, sondern auch die zu wenig das Wachstum stimulierende Krisenpolitik der EU – insbesondere die deutschen Partner. Denn sie fordern von Paris einen drastischen Schuldenabbau und einschneidende Strukturreformen, die von den Betroffenen als soziale Demontage empfunden werden.
Gabriel sieht die Schuld für die französische Misere hingegen im Land selbst. Während Deutschland mit der Agenda 2010 schmerzhafte Strukturreformen in Angriff genommen habe, habe Frankreich damals „einfach nur die Defizite erhöht“, sagte er.
Liberalisierung des französischen Arbeitsmarkts
Derzeit allerdings debattiert das französische Parlament ein vom sozialliberalen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron vorgeschlagenes Paket mit diversen Liberalisierungen des Arbeitsmarkts. Dagegen protestieren die Gewerkschaften, die sich davon keinen Aufschwung, sondern höchstens mehr prekäre Jobs versprechen. Nach Angaben des Ökonomen Eric Heyer sind bereits jetzt zwei von drei in Frankreich unterzeichneten Arbeitsverträgen zeitlich befristet und haben eine Laufzeit von weniger als einem Monat. Das sei genau das deutsche Modell, das Frankreich nicht kopieren sollte, meint Heyer.
Dass die Wirtschaftskrise in Europa mit solchen Maßnahmen allein nicht in den Griff zu bekommen ist, räumt auch Gabriel ein. Notwendig sei „eine Kombination aus Strukturreformen und Investitionen“ sagte er. Neue Gelder gibt es dafür aber nicht: Gabriel verwies lediglich erneut auf die von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) für die Zeit ab 2016 in Aussicht gestellten 10 Milliarden Euro.
Das kritisieren nicht nur Grünen-Fraktionsvize Kerstin Andreae, die Gabriels Pläne am Mittwoch als „aufgewärmten Kaffee“ bezeichnete, und Linken-Wirtschaftsexperte Michael Schlecht, der ein „Zukunftsinvestitionsprogramm für den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft von 100 Milliarden Euro jährlich“ forderte. Auch der Bundesverband der deutschen Industrie verlangte „eine langfristig angelegte Investitionsoffensive“; der Industrie- und Handelskammertag bezifferte die deutsche Investitionslücke auf 80 Milliarden Euro.
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