Kommissionsvorsitzende über Missbrauch: „Wo sind die Opfer aus dem Sport?“
Die Kommission zur Aufarbeitung sexueller Gewalt wendet sich dem Sport zu. Die Vorsitzende Sabine Andresen erklärt, warum es höchste Zeit dafür ist.
taz: Frau Andresen, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs will sich in den nächsten fünf Jahren schwerpunktmäßig dem Sport zuwenden. Ist das ein alarmierendes Zeichen?
Sabine Andresen: Überall, wo Kinder und Jugendliche sind, findet sexueller Missbrauch statt. Im Sport sind über sieben Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland aktiv. Zudem kann man seit 2010 regelmäßig über Fälle von sexuellem Missbrauch im Sport lesen. Beim Handball in Wiesbaden, beim Fechten in Tauberbischofsheim, beim Boxen in Hamburg. Und eine unabhängige Aufarbeitung ist in den Strukturen des Freizeit- und Leistungssports bisher noch nicht vorgesehen.
Sie wollen möglichst viele Menschen, die sexuellen Missbrauch im Sport erlebt haben, ermutigen, sich bei ihnen zu melden. Wie gehen sie dabei vor?
Wir haben an diesem Montag einen Aufruf gestartet und unseren Appell an die Medien und in unsere Fachszene, an die Beratungsstellen etwa, geschickt. Wir wollen ihn gern in alle Bereiche des Sports, auch über den Deutschen Olympischen Sportbund, die Deutsche Sportjugend und Landessportverbände verbreiten. Wir kommunizieren es über unsere sozialen Netzwerkkanäle und haben ein Video für das U-Bahn-Fernsehen in größeren Städten produziert. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, Betroffene zu ermuntern, sich bei uns zu melden.
Sabine Andresen
53, ist Professorin für Pädagogik an der Universität Frankfurt/Main. Seit 2016 ist sie Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Ihre Kommission hat in den vergangenen drei Jahren bereits Gespräche mit fast 1.000 Menschen geführt, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Waren darunter viele aus dem Sport?
Nein, aber anders als jetzt haben wir uns bisher nicht ausdrücklich an Betroffene aus dem Sport gewendet. Vor dem Hintergrund neuerer Studien zu sexueller Gewalt im Sport, haben wir uns aber die ganze Zeit gefragt, wo bleibt die zu erwartende hohe Anzahl von Menschen aus diesem Bereich.
Die Kommission: Im Mai 2016 hatte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) einberufen. Sie hat sich in ihrer ersten Arbeitsperiode bis 2019 die Schwerpunkte Familie, DDR sowie evangelische und katholische Kirche gesetzt. In der zweiten Laufzeit will die UKASK bis Ende 2023 schwerpunktmäßig auf den Sport, Menschen mit Behinderung und die sogenannte Pädosexuellenbewegung schauen.
Der Appell: Ab diesem Montag ruft die UKASK heute erwachsene Betroffene, die in Kindheit und Jugend sexueller Gewalt beim Freizeit-, Breiten- und Leistungssport sowie beim Schulsport ausgesetzt waren, dazu auf, von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Kommission bietet dafür einen geschützten Rahmen in Form von vertraulichen Anhörungen oder von schriftlichen Berichten.
Die Anlaufstelle: Alle Informationen zum Aufruf erhalten Interessierte unter www.aufarbeitungskommission.de/sport oder telefonisch unter 0800 40 300 40 (kostenfrei und anonym).
Laut der Studie Safe Sport hat mehr als ein Drittel der befragten Sportler sexualisierte Gewalt erlebt.
Wir müssen herausbekommen, ob es mit dem System Sport zu tun hat, dass sich die Betroffenen eher zögerlich melden.
Haben sie eine These?
Ich bin ja Kindheits- und Familienforscherin. Mein Eindruck ist, dass auch im Sport der Druck, nicht zu sprechen, sehr hoch ist, weil es fast familienähnliche Bezüge gibt. Häufig sind auch ganze Familien in den Vereinen verankert. Im Leistungssportbereich kommt die Not dazu, dass die jungen Athletinnen und Athleten ihren Sport, in den sie so viel investiert haben, nicht aufgeben wollen. Das dient den Tätern zugleich als Druckmittel, ihre Opfer zum Schweigen zu bringen.
Vertreter des Sports sagen gern, sexuelle Gewalt gibt es im Sport genauso wie sonst eben auch in der Gesellschaft.
Das haben Kirchenvertreter jüngst ähnlich formuliert. Für mich hört sich das ausweichend an. Natürlich geht es um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Den Funktionären und Verantwortlichen aber, die sagen, da sind wir nicht in besonderer Weise betroffen, müssen wir deutlich entgegenhalten, es gibt Gelegenheitsstrukturen, die sind typisch für den Sport. Es gibt eine besondere körperliche Nähe, Hilfestellungen etwa, die ausgenutzt werden können.
Mein Eindruck ist, dass im organisierten Sport die Bereitschaft, sich mit Präventionskonzepten zu beschäftigen, steigt, mit der Aufarbeitung tut man sich dagegen schwer.
Da haben wir erneut eine Analogie zur Kirche. Es ist deutlich herausfordernder, sich mit der Aufarbeitung zu beschäftigen, weil es dann schwerer fällt, Versagen im Verein, das Schweigen und Wegsehen auszublenden. Man kann dann auch nicht mehr so tun, als ob die Täter monströse Außenseiter seien, die man lange verkannt habe. Bei der Aufarbeitung kommt das systemische Versagen zum Vorschein, das dazu geführt hat, dass Kinder und Jugendliche sexuelle Gewalt erlebt haben. Dadurch sind viel mehr Beteiligte im Boot. Die Vermeidungshaltung ist nachvollziehbar, aber sie sollte überwunden werden.
Also ist massiver Druck von außen nötig?
Die Aufgabe der Kommission, aber auch der Politik ist es, offensiv zu fordern, dass auf allen Ebenen die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch begonnen wird. Die Bundesregierung könnte dem Sport Bedingungen stellen. Aber auch in der Politik ist die Vorstellung, dass die Aufarbeitung sexueller Gewalt wirklich notwendig ist, nicht sehr weit verbreitet.
Was kann der Sport tun?
Es wäre schön, wenn unser Aufruf in der Sportszene als wichtig erachtet wird und über alle Verbandsstrukturen kommuniziert wird. Ich sehe da beim DOSB, bei den Spitzensportverbänden und den Landessportbünden eine Verantwortung. Die Deutsche Sportjugend und der DOSB haben uns bereits um Informationen zum Aufruf gebeten, um diese über ihre Kanäle zu verbreiten.
Sie sprechen die Strukturebenen des organisierten Sports in Deutschland an. Deren Autonomie, erklären Sportfunktionäre gern, erschweren Direktiven von oben.
Wenn es heißt, wir können nichts machen, weil alle autonom sind, würde ich das als eine Ausrede, bezeichnen. Solche Ausflüchte dürfen wir nicht hinnehmen. Natürlich kann auch in dezentralen Strukturen systematische Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch ermöglicht werden. Dazu müssen Schnittstellen identifiziert werden und gut sichtbare Personen als Ansprechpartner installiert werden.
Bis 2024 ist ihre Arbeitsperiode angelegt. Was wäre für sie ein gutes Ergebnis?
Wir wollen, dass die Stimmen der Betroffenen gehört, ihre Erlebnisse gesehen werden. Das ist wichtig, denn in allen Bereichen dominiert die Lesart der Täter und des Systems, das die Taten lange möglich gemacht hat. Wir wollen einen systematischen Beitrag leisten, um die Strukturen im Sport besser zu verstehen, um sagen zu können, was notwendig ist, damit Kinder im Sport besser geschützt werden. Drittens müssen wir uns um die heute erwachsenen Betroffenen kümmern. Welche Unterstützung brauchen sie, welchen Beitrag müssen die Sportverbände dazu leisten?
Sie meinen die Folgekosten.
Genau. Die sind im Diskurs über sexuelle Gewalt im Sport bislang noch gar nicht zum Thema gemacht worden. Dass viele Menschen im Erwachsenenalter weiter mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, unter Einschränkungen leben, Therapiekosten zu stemmen haben, eventuell erwerbsunfähig sind. Das ist im Sportsystem überhaupt noch nicht im Bewusstsein. Und ein schöner Effekt wäre, wenn sich auch etwas im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein verändern würde.
Was wünschen Sie sich?
Dass sexualisierte Gewalt von den Vereinen, ihren Vorständen und Mitgliedern nicht mehr tabuisiert wird. Dass sich Eltern offensiv erkundigen, wo liegen die Gefährdungen für mein Kind und was tut der Verein dagegen. Dann wäre schon viel gewonnen.
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