Kommentar: Triumph der Verschwörungstheorie
Hamburgs Innensenator Nagel will ein Verbot von Scientology erreichen - eine unaufrichtige Forderung in einer Debatte mit zu wenig Rationalität.
E rst die Einweihung der Berliner Scientology-Zentrale, dann die Debatte um den Stauffenberg-Darsteller Tom Cruise, schließlich die 14-jährige Aussteigerin, die vor ihrer Stiefmutter nach Hamburg flüchtet: Wer im letzten halben Jahr die Nachrichten verfolgte, der konnte den Eindruck gewinnen, dass die umstrittene amerikanische Organisation demnächst die Macht in Deutschland übernehmen wird.
Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Scientology mit seiner Mitgliederwerbung hierzulande plötzlich viel erfolgreicher wäre als in der Vergangenheit, gibt es nicht. Laut zu sagen trauen sich das aber fast nur noch Politiker, die aus Altersgründen die Rache des Wahlvolks nicht mehr fürchten müssen - etwa Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), der zu Jahresbeginn ganz nüchtern feststellte, der Erfolg der Scientologen sei in seinem Bundesland "sehr gering".
Alle anderen flüchten sich unter dem Druck der hysterischen Debatte, die hauptsächlich von einer Aura des Geheimnisvollen zehrt, in ziellosen Aktionismus. Da wird einfach ein Verbot der Organisation gefordert oder zumindest wie in Berlin die neuerliche Observation durch den Verfassungsschutz angeordnet, da werden Drehverbote für Schauspieler gefordert oder spezielle Scientology-Beauftragte in allen Bundesländern verlangt. Das Fatale daran ist: Mit ihren maßlosen Verschwörungstheorien verfallen die Kritiker in just jene mentalen Muster, die sie der kritisierten Organisation vorhalten.
Besonders unaufrichtig wird es, wenn Hamburgs Innensenator Udo Nagel angeblich bei seinen 15 Länderkollegen ein Verbot von Scientology erreichen will. Dass das bei einer Organisation kaum möglich ist, die gleichzeitig vom Verfassungsschutz überwacht wird, sollte ihm aus der NPD-Debatte bekannt sein. Nagels "Scientology-Beauftragte" wollte bei der gestrigen Vorstellung ihres "Schwarzbuchs" zunächst nicht einmal eine präzise Begründung für die Verbotsforderung abgeben. Das ist bezeichnend für die mangelnde Rationalität der Diskussion.
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