Kommentar: In Ankara herrscht Unvernunft
Premier Erdogan schickt doch wieder Gül ins Rennen um die Präsidentschaft und setzt auf Konfrontation mit der Armee. Schwer vorstellbar, dass das Militär ruhig bleibt.
D er Machtkampf in der Türkei geht in die vorläufig letzte Phase. Mit der endgültigen Nominierung von Abdullah Gül als Präsidentschaftskandidat der regierenden AKP haben Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine Crew alle Beschwörungen ignoriert, einen Kompromiss mit dem säkularen Lager der Gesellschaft zu suchen. Nun gehen sie aufs Ganze. Offenbar glauben sie, nach ihrem überragenden Wahlsieg vom 22. Juli das Militär innenpolitisch nun gänzlich entmachten zu können.
Jürgen Gottschlich ist taz Korrespondent in Istanbul. Er war Mitbegründer dieser Zeitung, später war er Inlandsredakteur und in den 90er Jahren Chefredakteur.
Dabei wäre ein Kompromiss leicht möglich gewesen. Nach den Wahlen haben alle Parteien akzeptiert, dass die AKP das Recht hat, den Staatspräsidenten zu stellen. Mit ihrem Verteidigungsminister Vecdi Gönül oder dem Arbeitsminister Murat Basesgioglu hätte sie auch zwei Kandidaten gehabt, die von der Opposition akzeptiert und vielleicht sogar mitgewählt worden wären. Nennenswerte Abstriche in ihrer politischen Strategie hätte das die AKP nicht gekostet.
Mit Gül hat die Partei sich jetzt jedoch für die Konfrontation entschieden. Das türkische Militär hat in den gut 80 Jahren, die die Republik existiert, immer eine entscheidende politische Rolle gespielt und durch drei Putsche seit 1960 bewiesen, dass es sich nicht scheut, als vermeintlicher Hüter der Republik zuletzt auch die Panzer rollen zu lassen. Das hat der Türkei jahrzehntelang eine Art Demokratur beschert, die überwunden werden muss, um zu einer echten Demokratie zu kommen. Es hat die Türkei aber auch zum einzigen muslimischen Land gemacht, in dem Religion und Staat strikt getrennt sind, sodass zumindest das Fundament für eine Demokratie gelegt werden konnte.
Es ist deshalb fraglich, ob gerade die AKP geeignet ist, im Frontalangriff die Demokratur zu beseitigen, weil viele Türken fürchten, dass damit gleichzeitig auch die Errungenschaften der Republik beseitigt werden könnten. Es ist schwer vorstellbar, dass das Militär die Herausforderung durch die AKP nun einfach schluckt und sich zukünftig mit der Landesverteidigung nach außen bescheidet. Besäße Ministerpräsident Erdogan die politische Klugheit, die ihm selbst Kritiker nachgesagt haben, hätte er es zu diesem Machtkampf nicht kommen lassen.
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