Kommentar: Prinzip Ablenkung
Je näher die Kabinettsklausur rückt, desto mehr Pläne verkündet die Große Koalition. Und vernebelt damit ihr Versagen in wichtigen Fragen - wie etwa der Kinderarmut.
Die Republik darf sich glücklich schätzen, von einer Regierung geführt zu werden, die so viele Pläne hat. Die große Koalition möchte mehr für die soziale Gerechtigkeit tun. Die große Koalition will die Beschäftigten über Investivlöhne stärker am Gewinn von Firmen beteiligen. Die große Koalition sagt der Kinderarmut den Kampf an. Die große Koalition möchte mehr Fachkräfte ausbilden und ruft eine "nationale Bildungsoffensive" aus. Je näher die Kabinettsklausur in Meseberg rückt, desto mehr Pläne werden es. Jedes Thema, das bei "drei!" nicht auf den Bäumen ist, wird von den Regierenden in diesen Tagen aufgelesen und als Vorhaben für die Zeit bis 2009 verkauft.
Pläne verheißen Bewegung. Sie unterstellen Gemeinsamkeiten der Koalitionspartner. Sie versprechen Tatkraft. Sie vernebeln allerdings auch die Sinne. Die Regierung tut so, als seien ihre Vorhaben bereits Politik. Dabei sind sie Pseudopolitik. Die Inszenierung von wenig bis nichts. Sie taugen gerade mal als Kabinettsklausurverzierungen.
Ein Musterbeispiel dafür ist der angebliche Kampf gegen die wachsende Kinderarmut in Deutschland. Kaum hatte die Bundesagentur für Arbeit in der vorigen Woche verkündet, dass über 1,9 Millionen Kinder in Armut leben, da lancierte die Regierung die Nachricht, sie wolle den Kinderzuschlag ausbauen. Die Kanzlerin ließ erklären, Kinderarmut sei ein "brennendes soziales Problem". Das Familienministerium untermauerte seine Anstrengungen mit Zahlen und Daten. Die Regierung schien auf der Höhe der Zeit.
Die wirkliche Nachricht lautet ganz anders. Die Koalition versagt beim Kampf gegen Kinderarmut kläglich. In ihrem Koalitionsvertrag schrieben Union und SPD auf Seite 101: "Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem Jahr 2006 weiterentwickeln." Passiert ist seit zwei Jahren - nichts. Mal abgesehen davon, dass ein neu gestalteter Kinderzuschlag für Geringverdiener die Hauptursache von Kinderarmut und deren Folgen nicht wirklich beseitigt: Arbeitslosigkeit der Eltern, zerrüttete Familien, Schulabbrüche, ungesunde Ernährung.
Mindestlohn, Bildungsoffensive, Mitarbeiterbeteiligung, überall ist die Substanz ähnlich dürftig. Genau deswegen braucht die Koalition ihre Klausur in Meseberg ja - zur Ablenkung.
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