■ Kommentar: Berlin ist nicht Weimar
Verkehrte Welt: Der Verfassungsgerichtshof, Hort des Strukturkonservativen, mußte den Parteien, die sich rühmen, ihr Ohr am Puls des Volkes zu haben, einen progressiven Bericht zur Lage der Nation ins Stammbuch schreiben. Das Volk nämlich, von SPD und CDU mißtrauisch beäugt, ist nach Aussagen der Richter gar nicht so schlimm: Die Vernachlässigung aller Stimmen unter der Fünfprozenthürde ist nicht mehr zu rechtfertigen. Die Berücksichtigung des urdemokratischen Grundsatzes „One man, one vote“ würde die Bezirke nicht ins Chaos stürzen, meinen die Richter. Berlin ist nicht Weimar.
Das aber führen die Volks(!)parteien als Grund für ihren exklusiven Klub an: die Zersplitterung der Parlamente und das Ende der Weimarer Republik. Dabei kämpfen sie die Gefechte von gestern: Die wirkliche Bedrohung der parlamentarischen Demokratie kommt nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte. Sie kommt nicht durch überkochende politische Leidenschaft, sondern durch das bleierne Desinteresse und das verbreitete Gefühl der Ohnmacht des einzelnen. Die Gefahr droht nicht von irgendeiner Splitterpartei. Sie droht von einem Staat, in dem die Parteien nicht wie im Grundgesetz gefordert „zur Willensbildung beitragen“, sondern sich die Institutionen unter den Nagel gerissen haben. Sie droht von einer Politik, die über kurzfristige Parteiinteressen nicht hinaussieht, um drängende Probleme zu lösen. Und sie droht in einem Land, in dem die sozialen Probleme und das Desinteresse an der Politik von den Parteien nur noch verwaltet werden. Bernhard Pötter
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