Kommentar: An der Spritze des Feldes
■ Die Tour ist zu Ende, aber die Tour geht weiter
Die Tour de France 1998 ist zu Ende. Jetzt wird's spannend. Das längste Radrennen der Welt dauert dieses Mal noch ein paar Monate länger. Während die Kommentatoren noch über den sportlichen Wert des Toursieges in dem von Dopingampullen ausgedünnten Feld rätseln, hat die allerletzte Etappe schon begonnen. Sie führt den Tour-Troß über einen wahrhaft gigantischen Berg der ersten Kategorie in den Gerichtssaal und an den berühmten grünen Tisch der Sportfunktionäre. Hier wird über die Bestrafung der Sünder und künftige Dopingkontrollen, über die Zukunft einer ganzen Sportart entschieden. Was sind die Beteuerungen, einen Neuanfang zu wagen, wirklich wert?
Die anhaltende Jeremiade über den Polizeieinsatz und den vielzitierten „Schatten, der über der Tour“ lag, haben gezeigt, daß das Ausmaß dieses Skandals noch nicht begriffen wurde. Spätestens als der Geldkoffer beim Bergspezialisten Massi nebst reichlich Anabolika- und Kortisonpräparaten zum Vorschein kam, fühlte man sich an die Drogendealer von „Miami Vice“ erinnert. Natürlich kann man sich köstlich darüber mokieren, daß der bargeldlose Verkehr in der Dopingbranche offenbar noch nicht Einzug gehalten hat. Man darf sich auch über den „jungen Franzosen an der Spritze des Feldes“ amüsieren, den Versprecher des Jahres des ARD- Reporters. Man kann den Fall Massi, TVM, Festina und die ganze Tour 98 aber auch als Untergang eines Sports bedauern, den wir lieben und der die Ausmistung des Saustalls verdient hätte.
Die Glaubwürdigkeit des Radsports wird nicht nur an der Härte des Strafmaßes gegen die Zülles und Massis und den Festina-Sportdirektor zu messen sein, sondern vor allem am künftigen Kontrollsystem. Die Fachleute sind sich einig, daß – mit erheblichem Aufwand – eine ganzjährige Kontrolle aller Profis mit Haar-, Blut- und Urinkontrollen, die Ausstellung des berühmten Gesundheitspasses und die Einführung verbesserter Dopingtests möglich ist. Natürlich bleibt dies ein methodischer Wettlauf zwischen Fahnder und Betrüger. Aber diese Herausforderung muß angenommen werden. Die ganz Schlauen, die sowieso immer gewußt haben, daß alle gedopt sind, und die auch jetzt schon wieder wissen, daß die Fahrer immer Mittel und Wege finden werden, um sich unentdeckt aufzuputschen, sie werden der Tour de France und dem Sport am wenigsten helfen. Manfred Kriener Sport Seite 15
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