Kommentar: Angezogene Handbremse
■ Die Grünen im Spagat zwischen Reformanspruch und Realismus
Noch bevor Oskar Lafontaine gestern das bündnisgrüne Sofortprogramm für eine neue Regierungspolitik in Bonn zur Kenntnis genommen hatte, forderte er vom potentiellen Juniorpartner, sich nach den „Realitäten“ zu richten. Eine offensichtlich voreilige Mahnung. Allzudeutlich führte die Angst vor neuen Frontalangriffen aus dem Regierungslager den Autoren die Feder. Das Trauma von Magdeburg hat in der grüne Seele tiefe Spuren hinterlassen.
So liest sich das Sofortprogramm über weite Passagen gerade so, als habe der sozialdemokratische Wunschpartner bei der Formulierung schon mit am Tisch gesessen und Ecken und Kanten abgeschliffen. Wo ernsthafter Streit mit den Sozis zu erwarten wäre, einigten sich die grünen Semantiker auf wachsweiche Formulierungen – oder ließen riskante Programmfelder ganz außen vor. Verkehrspolitik, Außen- und Verteidigungspolitik, Asylrecht, alles keine Themen für den „Einstieg in eine grüne Reformpolitik 1998“. Gebranntes Kind scheut das Feuer.
Man hört schon die Pharisäer, die lustvoll den Verlust an Visionen und Profil bei der Ökopartei beklagen. Ein scheinheiliger Vorwurf. Nicht nur, weil Visionen in einem 100-Tage-Programm nichts zu suchen haben. Gerade die unscharfe Trennung von Langzeitperspektiven und kurzfristiger Regierungspolitik hat ja im Frühjahr die Massenflucht der potentiellen grünen Wählerschaft ausgelöst und den aktuellen Wahlkampf zu jenem quälenden Einheitsbrei gemacht, der heute allenthalben beklagt wird.
Wer vier Wochen vor Ultimo von den Bündnisgrünen den späten und offensiven Versuch erwartet hat, doch noch so etwas wie Reform- und Aufbruchstimmung ins Volk zu impfen, muß enttäuscht sein. Diese Chance wurde vor Monaten vertan. Jetzt ging es nur noch darum, die großkoalitionäre Annäherung nicht mutwillig durch radikale Parolen zu beschleunigen. Eine rot-grüne Regierung startet, wenn überhaupt, mit angezogener Handbremse. Euphorie kommt bei dem Gedanken nicht auf. Vielleicht reicht ja auch schlichter Pragmatismus. Denn in einem haben die Grünen recht: Die Chance auf den Einstieg in Ökosteuer und Atomausstieg, die Schaffung eines modernen Staatsbürgerschaftsrechts, eine Rentenreform, die diesen Namen verdient, oder eine einfach nur vernünftige Drogenpolitik gibt es nur mit Rot-Grün. Gerd Rosenkranz
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