Kommentar: Eine Frage des Volkswillens
■ Der "alte" Bundestag soll über den Kosovo-Einsatz befinden
Soll der „alte“ Bundestag den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Kosovo beraten und gutheißen, wie es gestern einvernehmlich von der scheidenden Kohl- und der kommenden Schröder-Regierung beschlossen wurde? Ein solcher Entschluß entspräche den Buchstaben des Grundgesetzes, würde aber den Geist der Verfassung grob verletzen.
Das Grundgesetz hat festgelegt, daß der alte Bundestag nach den Wahlen bis zum Zusammentritt des neugewählten Parlaments amtiert, spätestens bis zum Dreißigsten nach der Wahl. Diese Festlegung ist vernünftig, denn sie sichert die Handlungsfähigkeit der Legislative im Fall sehr dringender Entscheidungen. Jetzt wird uns suggeriert, die Terminplanung eines möglichen Nato-Einsatzes gegen Ziele in Serbien lasse die Konstituierung des neuen Bundestages nicht mehr zu. Wieso eigentlich nicht? Folgt man der Verfassung, kann das Parlament jederzeit nach der Wahl zusammengerufen werden. Dies könnte, auch unter Wahrung von Benachrichtigungsfristen etc., sofort geschehen.
Für einen Beschluß des neuen Bundestages zur Entsendung der Tornados spricht ein elementarer Verfassungsgrundsatz, der der Volkssouveränität. Das Votum des Souveräns vom 27.9. muß zwingend so verstanden werden, daß offengebliebene politische Fragen von der politischen Institution entschieden werden, in der sich der erneuerte Wählerwille verkörpert. Also vom neuen Bundestag. Es sind eben die neuen Abgeordneten, die die schwerwiegende Frage entscheiden und verantworten müssen, was höher zu bewerten ist: das Gebot der Humanität oder die Charta der Vereinten Nationen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Awacs-Urteil von 1994 die Möglichkeit offengelassen, daß bei Gefahr im Verzuge die Bundesregierung erst handelt und danach umgehend die Zustimmung des Parlaments, also hier des neugewählten, einholt. Aber auf diese Ausnahmeregelung braucht im Falle des Kosovo-Einsatzes nicht zurückgegriffen zu werden.
Man komme nicht mit dem Einwand, die hier vertretende Argumentation sei haarspalterisch, weil das alte Parlament mit seiner übergroßen Mehrheit genauso wie das neue für den Einsatz stimmen wird. In Frage steht der Volkswille vom 27. September – und die Verantwortung der Abgeordneten, die durch ihn berufen wurden. Auch die der Bündnisgrünen. Christian Semler
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