Kommentar: SPD im Dilemma
■ Mehr Mut zum Neuanfang ist gefragt
Die SPD ist in einem kaum auflösbaren Dilemma. Nach acht quälenden Jahren würde sie die Große Koalition lieber heute als morgen beenden. Doch das Risiko ist nicht unerheblich. Beim Wähler kommt ein Aufkündigen einer Regierungskoalition in der Regel nicht gut an. Das Scheitern der Koalition könnte zu Stimmenverlusten für CDU und SPD führen.
Doch bleibt die SPD in der Großen Koalition, droht ihr eine andere Gefahr. Falls die Zweckgemeinschaft von SPD und CDU bis zum Herbst 1999 nicht mehr viel zustandebringt, könnte die SPD in den Abwärtsstrudel der CDU geraten. Und damit wäre die Option auf ein rot-grünes Bündnis gefährdet. Zur Erinnerung: Die SPD mußte bei den Abgeordnetenhauswahlen 1995 ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte hinnehmen: sie verlor 11,9 Prozent und landete bei 23,6 Prozent. Die Grünen erzielten 13,2 Prozent. Damit es für rot-grün reicht, müßte die SPD ganz erheblich zulegen. Sie ist in der Großen Koalition zum Erfolg verdammt.
Vor diesem Hintergrund ist die Aufforderung der SPD an den Koalitionspartner, ein konkretes Arbeitsprogramm für den Rest der Legislaturperiode zu vereinbaren, folgerichtig. Doch was erwarten die Sozialdemokraten eigentlich? Daß Verkehrssenator Jürgen Klemann (CDU) sich plötzlich eines Besseren besinnt und etwas für den Öffentlichen Nahverkehr tut? Ist Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) zuzutrauen, daß sie die schwierige Krankenhausreform bis zum Sommer unter Dach und Fach bringt? Die Erfahrungswerte der letzten Jahre stimmen eher pessimistisch. Auch die Innenstadtkonferenzen des Regierenden Bürgermeisters haben für die Problemquartiere bislang nichts Konkretes gebracht. Und die drei Neuen im Senat werden es schwer haben, bis zur Sommerpause, wenn die heiße Wahlkampfphase beginnt, noch etwas zu bewegen. Die CDU hat kein Interesse an Neuwahlen. Sie setzt auf Zeit, um sich von der Schlappe der Bundestagswahl zu erholen. Die SPD muß schon selbst den Mut aufbringen, Neuwahlen herbeizuführen. Bislang eiert sie herum — die Forderung nach einem Arbeitsprogramm des Senats eröffnet die Möglichkeit, die Koalition doch noch platzen zu lassen. Zugleich hält sich die SPD alles offen. Unklar bleibt auch, an welchem Punkt die SPD ein Mindestmaß an gemeinsamen Vorhaben unterschritten sähe. Womöglich bleibt es bei der Drohgebärde. Mehr Mut zum Neuanfang wäre der SPD zu wünschen. Dorothee Winden
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