Kommentar: Fenster auf!
■ Beim Gipfel in Pörtschach befreit sich die EU von alten Denkblockaden
Der Wind in der Europäischen Union hat sich gedreht – deutlicher, als zu erwarten war. Nicht nur die sozialdemokratischen Regierungschefs, mit elf zu vier in der Mehrheit, erinnern sich plötzlich, daß sie sich nicht länger auf die deutsche Blockade hinausreden können. Nach dem Abgang der währungspolitischen Fundamentalisten Kohl und Waigel outeten sich selbst die restlichen konservativen Regierungschefs als Realos in Wirtschafts- und Währungsfragen.
Zinssenkungen und Regeln für die Kapitalmärkte sind nun kein Tabu mehr. Die Europäische Zentralbank wird sich künftig die Aufforderung gefallen lassen müssen, bei der Zinspolitik auch die Arbeitsmarktlage im Auge zu haben. Die Unabhängigkeit der Zentralbanker ist damit nicht in Frage gestellt, die ist vertraglich geregelt. Doch der Anachronismus, daß die Banker den Regierungen sagen, welche Wirtschafts- und Finanzpolitik sie zu machen hätten, ist offensichtlich vorbei.
Die Gefahr, daß die Regierungen in die alte Krankheit zurückfallen, mit neuen Schulden die Wirtschaft anzukurbeln, ist eher gering. Denn alle kennen die Erfahrung, daß Altschulden den Handlungsspielraum einengen und schwer abzubauen sind. In Pörtschach hat sich lediglich die schlichte Erkenntnis durchgesetzt, daß sich das Wohlbefinden der Gesellschaft nicht allein auf den Kontostand der Regierung reduzieren läßt.
Politik ist der Umgang mit Zielkonflikten, zum Beispiel dem Abwägen zwischen Inflationsbekämpfung und Abbau der Arbeitslosigkeit. Die Zentralbank hat den Auftrag, für stabiles Geld zu sorgen. Das soll sie tun. Aber Kohl und Waigel wollten auch die Regierungen mit Stabilitätspakt zwingen, sich für alle Zukunft allein auf dieses Ziel festzulegen. Es klang wie eine Befreiung, als der österreichische EU-Ratspräsident Viktor Klima sagte, Kohl habe nie verstanden, was europäische Beschäftigungspolitik eigentlich ist.
Daß die Schuldenkriterien künftig weicher ausgelegt werden, ist nur ein Teil der neuen Freiheit. Künftig wollen die EU- Regierungen auch gemeinsame und damit wirksamere Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung angehen. Wie die genau aussehen, ist noch unklar. In Pörtschach wurden vorerst Denkblockaden weggeräumt und die Fenster aufgemacht. Die EU-Regierungen haben sich endlich gemeinsam dem Druck der Realität ausgesetzt. Alois Berger
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