Kommentar: Mit Fingerspitzengefühl
■ Joschka Fischers Auftritt in Warschau war sinnvoll
Deutsche und Polen haben in letzter Zeit oft aneinander vorbeigeredet. Ein Beweis dafür war der „Papierkrieg“ der beiden Parlamente im Sommer. Dann kam die Enttäuschung in Polen über den Sieg von Rot-Grün. Und schließlich war Warschau verstimmt über die „mißverständlichen“ Signale der neuen Regierung. Da war viel von einer Drosselung des „Sozialdumpings“ durch Arbeitnehmer aus Ostmitteleuropa die Rede, aber wenig von den Gewinnen, die die deutsche Wirtschaft – und mit ihr auch deutsche Arbeitnehmer – schon heute dank der avisierten Osterweiterung der EU erzielen.
Mit Argusaugen beobachteten die polnischen Medien die ersten Erklärungen von Rot-Grün, die Ostmitteleuropäer seien in der EU zwar willkommen, aber vielleicht nicht gar so schnell. Dabei hatte man sich in Polen doch so sehr an Chiracs und Kohls Versicherung geklammert, Polen werde 2000 Vollmitglied der Union sein.
Deutschland, so sagte Fischer in Warschau, will Anwalt Polens in der EU bleiben, auch wenn er sich bei der Frage, wann Polen EU-Vollmitglied werde, bedeckt hielt. Die Rollen scheinen historisch bedingt. Der Deutsche mahnt Realismus an, der Pole weiß, daß man Pragmatik sehr wohl mit Romantik verbinden und nicht nur die fließenden Interessen der Realpolitik beachten, sondern auch anspornende Visionen europäischer Solidarität haben muß, um Energie für den Kraftakt der europäischen Einigung freisetzen zu können.
So sollte die künftige deutsche Ostpolitik sich nicht nur an reinem Interessenkalkül orientieren, sie darf sich auch nicht in der Hoffnung erschöpfen, daß der Euro unserem Kontinent eine neue Seele einhauchen kann. Die deutsch-polnischen Beziehungen werden noch eine Weile ein Psychodrama der Ungleichheiten, Ungleichzeitigkeiten und historisch bedingten Mißverständnisse sein, die die strategische deutsch-polnische Interessengemeinschaft der letzten acht Jahre in Zukunft bisweilen trüben werden.
Mit der Kranzniederlegung an den Denkmälern der beiden Aufstände, 1943 im Ghetto und 1944 im gesamten Warschau, hat Fischer historisches Fingerspitzengefühl gezeigt. Wenn Schröder nächste Woche nach Polen kommt, wird er eine gute Vorarbeit seines Außenministers, wie man so sagt, „erweitern und vertiefen“ können. Adam Krzemiński
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