Kommentar: Demoskopie oder Demokratie
■ In Hessen ging es nicht um das Staatsbürgerschaftsrecht
Weit ist es gekommen. Jetzt erscheint es schon, je nach Standpunkt, als Ausweis profilierter Standfestigkeit oder starrer Uneinsichtigkeit, wenn eine Bundesregierung an Plänen festhält, obwohl eine der sie tragenden Parteien bei einer Landtagswahl schlecht abgeschnitten hat. Die Demoskopie scheint als alleinige Richtschnur für politisches Handeln so weithin akzeptiert zu sein, daß als unvernünftig oder tollkühn gilt, wer sich der Göttin nicht sofort in Demut neigt. Das ist eine erstaunliche Aufwertung dieser häufig doch umstrittenen Disziplin. Im vorliegenden Fall ist das Instrument ganz besonders untauglich.
Die Bevölkerung in Hessen hatte nicht über die geplante Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zu befinden, sondern über die Zusammensetzung ihrer neuen Landesregierung zu entscheiden. Natürlich sind Rückschlüsse auf das bundespolitische Klima legitim, zumal deshalb, weil ein überregionales Thema im Wahlkampf eine große Rolle gespielt hat. Aber für die Aussagekraft solcher Folgerungen gibt es Grenzen.
Wer vor knapp einem Jahr in Niedersachsen CDU gewählt hat, wollte damit nicht zugleich ein Votum für Oskar Lafontaine als SPD-Kanzlerkandidaten abgeben. Jetzt sollten nicht alle Eltern, deren Wahlentscheidung vom Unmut über eine verfehlte Schulpolitik in Hessen bestimmt war, als Kronzeugen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft herhalten müssen. Derart einschichtige Deutungen entwerten das demokratische Recht des Souveräns, sich seine Regierung zu wählen.
Ungeachtet dessen spricht vieles dafür, daß die Pläne zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts an einer Volksabstimmung scheitern würden. Regelungen, die für die Interessen von Minderheiten getroffen werden, haben nur selten Aussichten auf den jubelnden Beifall der Mehrheit. Wäre es anders, dann bedürften diese Interessen kaum je einer Regelung. Der Gesetzentwurf zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft dient dem inneren Frieden der Gesellschaft. Die Unterschriftenaktion der Union gegen das geplante Gesetz gefährdet diesen Frieden, mag das auch nicht von allen Initiatoren beabsichtigt gewesen sein. Niemand könne gegen das Volk regieren, heißt es. Schon recht. Wenn damit gemeint ist, daß eine Regierung keinerlei unpopuläre Entscheidungen treffen darf, dann kann sie überhaupt nicht regieren. Dafür ist sie aber gewählt worden. Bettina Gaus
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