Kommentar: Jenseits der Realität
■ Momper verkörpert nicht die neue Mitte
Sie meinen es tatsächlich ernst. Die SPD will den BerlinerInnen im Wahlkampf nichts als kaltes Sparen offerieren, und die CDU verabschiedet sich bis zum 10. Oktober endgültig aus den Realitäten der Berliner Haushaltspolitik. Eigentlich war die Union, glaubt man ihrem Fraktionschef, in den vergangenen vier Jahren in der Opposition.
Die Frage ist nur, wer bei dieser grotesken Verkehrung der traditionellen Parteienkonstellation glaubwürdiger bleibt. Bei der CDU ist die Frage, so scheint es, leicht zu beantworten: An ihre heuchlerischen Wahlversprechen kann sie selbst nicht glauben. Aber nach der Wahl läßt sie sich vom Zwangspartner SPD eben wieder zu angeblichen Grausamkeiten zwingen.
Doch auf der anderen Seite haben die Sozialdemokraten die Glaubwürdigkeit nur scheinbar auf ihrer Seite. Denn zu einer Politik der „neuen Mitte“ gehören auch Personen, die diesen Aufbruch wirklich verkörpern – und eine Aufbruchstimmung verbreiten. Dazu gehört mehr als ein paar Lippenbekenntnisse.
Die Finanzsenatorin ließe sich ja noch, wäre sie ein bißchen weniger spröde, als glaubhafte Vertreterin eines Aufbruchs in die Moderne inszenieren.
Parteichef Strieder aber wird noch nicht dadurch zum Berliner Schröder, daß er neuerdings Anzüge trägt und Zigarre raucht.
Und wenn die SPD verkündet, die Schulpolitik genieße bei ihr große Priorität, erscheint das vollends grotesk: Warum, fragt sich der Wähler, hat die Partei das einschlägige Senatsressort in den vergangenen vier Jahren als Abschiebeposten für eine glücklose Spitzenkandidatin mißbraucht?
Am schwierigsten aber wird es beim Spitzenkandidaten. Da lädt er die Presse regelmäßig in einen fensterlosen Raum voller Stuck- und Rokoko-Imitat, präsentiert sich mit schlechtfrisiertem Haarkranz und abstehendem Zweireiher-Sakko.
Vom Lebensgefühl, das sich gemeinhin mit dem Begriff der „neuen Mitte“ verbindet, verkörpert der Kandidat kaum etwas. Da hilft es wenig, wenn Momper den immer gleichen Satz verkündet: „Wirtschaftspolitik muß Chefsache werden!“ Ralph Bollmann
Bericht Seite 22
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