Kommentar: Die Konsumterroristen
■ Auch am Sonntag öffnet der Kaufhof am Alex seine Pforten
Das wird ein Spaß. Knapp zehn Jahre nach der bisher größten Demo auf dem Alex wird es am Sonntag wieder einen Massenauflauf an der Weltzeituhr geben. Spätestens, wenn um Punkt 11 Uhr das Centrum-Warenhaus, pardon: der Kaufhof seine Pforten öffnet. Die Tür muß weg, skandiert eine erregte Menge. Und: Kommt die Ware nicht zu mir, bleiben wir für immer hier.
Dazwischen versuchen ein paar wackere Frauen und Männer von der Gewerkschaft, die Eingänge zu blockieren. Aber Traditionalisten haben in der neuen Mitte der Hauptstadt keine Chance: Gnadenlos werden sie von den Konsumterroristen zur Seite gedrückt. Dann geht es los: Waren die Protestierer noch glimpflich davongekommen, so gibt es an den Grabbeltischen kein Pardon. Soviel haben selbst die Ossis gelernt: Beim Kampf um die Schnäppchen gilt das Recht des Schnelleren. Rund um die Uhr.
Und was sie kaufen dürfen, das lassen sich die stolzen D-Mark-Besitzer erst recht nicht mehr vorschreiben. Zwar dürfen sie sonntags nur „Waren des touristischen Bedarfs“ erstehen. Aber: Wer Mauern überwindet, ist durch Flatterbänder, die die wunderbar vollen Regalflure versperren, nicht aufzuhalten. Überhaupt touristischer Bedarf! Was soll man schon anfangen mit Badehosen, Bonbontüten, Brauseflaschen? Die gab's im Osten schon. Gebraucht werden statt dessen Staubsauger, Pelzmäntel, Kassettenrecorder, Waschmaschinen.
Ein Glück, daß Manager und Angestellte des Kaufhofs mitspielen. Während die Beschäftigten eine Sonderprämie für die Sonntagsarbeit einstreichen, haben sich die Chefs etwas ganz Besonderes ausgedacht, um die Touristikbedarf-Bestimmung zu umgehen: den grünen Punkt des Warenhauses. Auf jede Unterhose und jeden Turnschuh, jedes Buch und jede CD, jedes Shampoo und jedes Parfum wird einfach ein Zettelchen geklebt: „Berlin Souvenir“.
Damit treten die Kunden überglücklich ihren Heimweg an. Und abends warten sie darauf, sich selbst und die Mitkämpfer im Fernsehen bewundern zu können. Im Osten beginnen die Revolutionen. Bald gilt überall: Freies Einkaufen für freie Bürger. Richard Rother
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