Kommentar zum Bericht Kindesmissbrauch: Verbrechen gegen das Menschsein
Christine Bergmann wird mit ihren guten Vorschlägen scheitern. Die unsichtbare Hand des Täterschutzes ist zu stark. Doch Täter sollten mit Strafe rechnen. Immer. Das wäre Fortschritt.
S ie hat schon verloren. Christine Bergmann ist die erste nationale Beauftragte gegen sexuellen Kindesmissbrauch. Und sie ist auch die beste, die diesen Job machen konnte: Frau Bergmann ist stark, sensibel und schlau. Sie hat am Dienstag eine Vielzahl von richtigen und notwendigen Vorschlägen veröffentlicht. Sie reichen von der bedingungslosen Anerkennung über Entschädigung bis zu Therapie und Verjährung. Dennoch wird selbst Christine Bergmann damit scheitern - zu stark ist die unsichtbare Hand des Täterschutzes bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Die Logik des Strafrechts und die Psychologie der Tat stehen sich diametral gegenüber. Sie sind nicht zu versöhnen. Das missbrauchte Kind braucht lange, manchmal sein ganzes Leben, ehe es sich aus seinem Kokon von vermeintlicher Mitschuld und Scham befreit. Aber dann ist es meistens zu spät, denn die Strafwürdigkeit der Taten ist in den meisten Fällen bereits verjährt.
Ein Beispiel: Die Odenwaldschule, die über 20 Jahre hinweg ein perfektes wie perfides System sexueller Gewalt praktizierte, hält die Republik beinahe ein Jahr lang in Atem. Aber juristisch ist an der Vorzeigeschule nichts geschehen: Keiner der Täter wird jemals belangt werden - weil alles verjährt ist. Seit langem.
CHRISTIAN FÜLLER ist Bildungsredakteur der taz.
Alle Versuche, die Verjährung bei sexueller Gewalt gegen Kinder wirksam auszuweiten, sind gescheitert. Deswegen wird es Zeit, Missbrauch als das anzusehen, was es in Wahrheit ist: Ein Verbrechen gegen das Menschsein - das nicht verjähren darf.
Selbstverständlich ist Missbrauch nicht mit Völkermord gleichzusetzen. Aber es lohnt, sich genauer anzuschauen, was die Merkmale pädokrimineller Straftaten sind: Es sind genau geplante Vergehen, die eine möglichst lange sexuelle Ausbeutung von Kindern erreichen wollen. Ihr brutales Ziel ist die systematische Vergewaltigung - die ein wichtiges Kriterium der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist.
Und: Missbrauch richtet sich gezielt gegen den Menschen in einer entscheidenen Phase seines Werdens - wenn er in der Pubertät seine Identität herausbildet. Viele Missbrauchsopfer finden niemals zu sich, weil sie die Täter an dieser wichtigen Weiche ihres Lebens aus der Bahn geworfen haben. Wer so etwas in Strukturen, die der organisierten Kriminalität ähneln, plant oder auch nur in Kauf nimmt, muss mit Strafe rechnen. Immer. Das wäre der entscheidende Fortschritt im Kampf gegen Missbrauch. Die Opfer brauchen ihn. Endlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt