Missbrauchsforscherin über sexuelle Gewalt: "Die Verjährung muss weg"

Die Gesellschaft hat aus den Skandalen der letzten Jahre nichts gelernt, sagt Anita Heiliger. Sie fordert die Abschaffung strafrechtlicher Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch.

Dieser Angeklagte muss sein Gesicht vorm Landgericht in Koblenz präsentieren: In vielen Fällen können die Täter wegen der Verjährungsfrist nicht strafrechtlich verfolgt werden. Bild: dapd

taz: Frau Heiliger, welche Forderung halten Sie für die wichtigste, um sexuellen Missbrauch zu bekämpfen?

Anita Heiliger: Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche darf strafrechtlich nicht verjähren, die Verjährungsfristen müssen weg.

Warum?

ist Sozialwissenschaftlerin, die lange am Deutschen Jugendinstitut geforscht hat. Heiliger hat sich mit Tätersstrategien befasst. Zum Beispiel in "Sexuelle Gewalt. Männliche Sozialisation und potenzielle Täterschaft".

Weil es sich dabei um ein Verbrechen handelt, das Menschen für ihr ganzes Leben schädigen kann. Wenn die Opfer endlich über das reden können, was ihnen als Kind angetan wurde, kann man das Verbrechen in den meisten Fällen nicht mehr verfolgen. Das laxe Strafrecht führt also dazu, dass die betroffenen Menschen für immer in der Macht der Täter bleiben. Die Täter müssen aber wissen: Wenn sie so ein Verbrechen gegen ein Kind begehen, kommen sie da nie mehr raus.

Manche Kritiker wie der Autor Tilman Jens sprechen davon, dass es eine Hetzjagd auf echte oder vermeintliche Täter gebe.

Davon kann keine Rede sein, damit entlarvt sich Jens als Täterschützer. Die meisten Täter bleiben doch straflos - wegen der Verjährung, der Täterorientierung des Strafrechts, aber auch wegen der Glaubwürdigkeit, die Opfern sexueller Gewalt in aller Regel abgesprochen wird. Die Betroffenen kommen so in eine unerträgliche Situation. Ihnen fällt es unendlich schwer, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Die Unabhängige Beauftragte Bergmann konzentriert ihre Empfehlungen auf Therapien und Entschädigung für die Opfer. Was halten Sie davon?

Das sind zweifellos wichtige Aspekte. Den Opfern muss geholfen werden, aber Entschädigung ist eine zweischneidige Sache.

Was meinen Sie damit?

Institutionen, die Missbrauch nicht wirklich bekämpfen wollen, kaufen sich durch Entschädigungen frei. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Täter selbst nicht belangt werden. Die Gesellschaft und der Staat stehen für die Taten ein, nicht die Täter.

Aber die Opfer haben doch etwas davon?

Für die meisten Opfer von sexuellem Missbrauch ist eine Entschädigung zunächst nicht so wichtig. Sie wollen als Erstes, dass das Verbrechen anerkannt wird. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als dass der Schuldvorwurf von ihnen genommen wird.

Zum Beispiel der Vorwurf, dass es ihnen Spaß gemacht habe?

Es ist ein wesentlicher Teil der Täterstrategie, das Kind durch eigenes Lustempfinden in die Falle zu locken, den Missbrauch zu dulden und zu schweigen. Es fühlt sich schuldig, weil es sich nicht gewehrt, dass es mitgemacht oder gar Lust empfunden habe. Wer solche Argumente bedient, wird Teil der Täterlobby.

Was genau meinen Sie mit "Täterlobby"?

Alle Leute, die die Tat verharmlosen, relativieren oder gar die Schuld auf die Opfer abwälzen, entlasten die Täter. Sie schützen die Pädokriminellen vor den Konsequenzen ihrer Tat.

Warum verhält sich die Gesellschaft so ambivalent: Einerseits verurteilt sie sogenannte Kinderschänder aufs Schärfste, andererseits nimmt sie kaum Kenntnis von subtilen Täterstrategien?

Solange sie die Tat einem Fremden anlasten kann, ist die Gesellschaft tatsächlich unerbittlich. Sie kann mit dem Finger auf andere zeigen. Wenn sie aber verstehen soll, warum der Vater einer Familie, der Pfarrer einer Gemeinde oder der Leiter einer renommierten Schule so grausam gegen Kinder sein konnte, muss sie den Finger immer auch auf sich selbst und ihre eigene Sexualität richten.

Hat die Gesellschaft nach einem Jahr immer neuer Missbrauchsfälle verstanden, was Missbrauch überhaupt bedeutet?

Nein, überhaupt nicht. Denn sie befasst sich nicht mit der wichtigsten Ursache: der Idee, dass es akzeptable Sexualität sei, wenn Männer ihre Machtinteressen auf sexuellem Weg durchsetzen. Es bleibt dabei völlig ausgeblendet, dass wirklich befriedigende Sexualität gleichberechtigte PartnerInnen voraussetzt. Die Gesellschaft ist an dieser Stelle völlig unaufgeklärt - denn sie definiert männliche Sexualität als Verfügung über Objekte. In diesem Sinne werden Jungen anhand pornografischer Bilder sexuell sozialisiert. Und dann wundern wir uns, wenn sie darauf konditioniert sind, sich an Schwäche und Unterlegenheit sexuell zu erregen. Das ist der Kern des Problems.

INTERVIEW:

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