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Kommentar von Stefan Reinecke über das vierte Kabinett MerkelMagma unter der Oberfläche

Die geschäftsführende Regierung ist abgelöst, aber das Geschäftsmäßige bleibt. Diese Koalition hat nichts Euphorisches. Dass mindestens 35 Abgeordnete der Ko­alition Merkel nicht wählten, zeigt, wie müde schon jetzt viele von dieser Regierung sind.

Natürlich gibt es eine paar neue, interessante Gesichter und Konstellationen. Falls Horst Seehofer ideologisch so scharfkantig auftritt wie angekündigt, wird Katarina Barley als Justizministerin für das Kontra sorgen müssen. Jens Spahn wird weiter die konservative Krawallschachtel geben – ein sozialdemokratisches Pendant gibt es nicht. Der SPD scheint, wie der Rückzieher bei Paragraf 219a zeigt, der Koalitionsfriede wieder über alles zu gehen. Dafür trägt der Koalitionsvertrag, wie schon 2013, eine blass sozialdemokratische Handschrift. Normalverdiener werden weniger Steuern und Kitagebühren zahlen.

Also ein „Weiter so“? Nein, das vierte Kabinett Merkel ist eine historische Zäsur. An der Oberfläche scheint alles gleich. Doch darunter brodelt Magma.

Die Bundesrepublik ist eines der reichsten, liberalsten Länder der Welt. Der Export boomt, ein Erfolg, der durch Lohndumping erkauft wurde. Deutschland hat von der Finanzkrise, die in Südeuropa Verheerungen angerichtet hat, profitiert. So ist die Regierung in der luxuriösen Lage, nicht sparen zu müssen, sondern jedes Jahr gut 10 Milliarden Euro mehr ausgeben zu können.

Die soziale und wirtschaftliche Lage ist stabil. Trotzdem hat diese Regierung etwas von einem letzten Aufgebot. Es ist die erste Große Koalition seit 1949, die verlängert wird. Das Bündnis ist nicht mehr, was es sein soll: die Ausnahme. Das System von einer Mitte-rechts- und einer Mitte-links-Partei, die sich an der Regierung abwechseln, implodiert. Dafür gibt es zwei Gründe. In der individualisierten Gesellschaft haben es Großorganisationen, die immer Kompromissmaschinen sind, schwer. Das ist nicht neu, aber ein Trend von ungebrochener Kraft. Zweitens sind sich SPD und Union zu ähnlich geworden. Schröder hat die SPD entkernt, Merkel die CDU. Zum Prinzip der Demokratie gehört aber die Wahl zwischen deutlich unterscheidbaren Alternativen; und die Nachfrage nach Erkennbarkeit wächst.

Diese Regierung ist für Union und SPD eine Zwangsjacke, die das Nötige verhindert – und der fatale Versuch, eine Krankheit zu heilen, indem man deren Ursachen verstärkt. Das System von zwei Volksparteien der Mitte war lange ein rationales Modell politischer Entscheidungsfindung. Es wird nicht mit einem Krach verschwinden, sondern in einem zähen Prozess. Der Zerfall hat begonnen.

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