Kommentar neue Koalition in Ba-Wü: Ein historisches Zeichen
Erstmalig dürfen die Grünen die LandtagspräsidentIn stellen. Sie hätten eine ausgezeichnete Kandidatin, geboren in der Türkei.
D iese Regierung soll historisch werden? Schon klar: Das Ergebnis der Wahl in Baden-Württemberg war historisch, weil die Grünen erstmals stärker abschnitten als die CDU. Natürlich: Eine Koalition, in der die CDU nur die Juniorpartnerin der Grünen spielen darf, ist auch noch nie da gewesen. Und sicher: Winfried Kretschmann ist der Rekordhalter, das personifizierte Gab-es-noch-nie.
Aber als Kretschmann und sein künftiger Vize Thomas Strobl von der CDU am Montagmittag die Ergebnisse ihrer Verhandlungen vorstellten, da machten sie den starken Eindruck: Diese Regierungszeit droht zur reinen Routineangelegenheit zu werden, sie wird fad, vielleicht sogar historisch langweilig.
Dass der Klimaschutz zu den Schwerpunkten zählt – für die CDU überhaupt keine Selbstverständlichkeit – ist wichtig. Dass im Autoland ein paar Radschnellwege gebaut werden, ist schön. Dass 1.500 neue Polizeistellen geschaffen werden, ist okay. Dass Polizeibeamte bei Demonstrationen nicht individuell mit Nummern, geschweige denn mit Namen gekennzeichnet werden, ist schlecht.
Kompromisslastiger Politkitsch
Wichtig, schön, okay, schlecht. Das Vertragswerk sieht nach ordentlicher Kompromisslerarbeit aus. Zur mutigen Veränderung aber, zur zündenden Idee scheint Schwarz-Grün nicht zu taugen. Digitalisierung, Stärkung der Kommunen, Nachhaltigkeit – solche Formulierungen finden sich in praktisch jedem Regierungsvertrag. Der Politkitsch der Koalitionäre klingt so leer wie die Ansagen eines Spielzeugroboters mit nur noch halb geladener Batterie: Mittelstandsland, Gründerland, Kinderland, Fachkräfteland, Exportland, Sportland, Innovationsland, Technologieland, Holzbauland. Baden-Württemberg, das Musterland.
Auch der Zuschnitt der Ministerien lässt keine Veränderungen erwarten. Kretschmann und Strobl haben bei ihrem Auftritt am Montag zwar so getan, als ob sie hart – beinhart! – um jedes einzelne Staatssekretärshandy gekämpft hätten. Aber das wirkte alles in allem eher so wie in der Theater-AG am Gymnasium in Sigmaringen. Am Schluss haben sich die beiden geeinigt: wir fünf Ressorts, ihr fünf Ressorts.
Der CDU-Innenminister wird die Rolle spielen, die wir von CDU-Innenministern kennen. Die grüne Wissenschaftsministerin wird weiter eine gute Arbeit machen. Der CDU-Wirtschaftsminister wird sich genau wie sein SPD-Vorgänger ärgern, dass die Unternehmer und Manager Winfried Kretschmann umschmeicheln und nicht ihn selbst. Die Naturschutzverbände werden froh sein, dass ihr Bereich nicht im künftig schwarzen Agrarministerium bleibt, sondern ein Reservat im grünen Umweltministerium zugewiesen bekommt. Und der Agrarminister von der CDU wird den Fleckviehbauern auf der Zollernalb guten Tag sagen. Historisch? Alltag.
Die Chance ist jetzt da
Für ein Ministerium ändert sich allerdings ganz schön viel: Ein eigenständiges Integrationsministerium wird nicht mehr existieren. Das Ressort wird aufgespalten und zwischen dem Innen- sowie dem Sozialministerium aufgeteilt. Eine türkischstämmige Ministerin wie die herrlich gradlinige Sozialdemokratin Bilkay Öney: bisher nicht in Sicht.
Öney war Integrationsministerin. Eine klassische Besetzung, denn bisher bekamen in Deutschland Politikerinnen mit Migrationshintergrund gewöhnlich dieses Ressort ab. Das ist nicht falsch, aber es ist nur ein Anfang. Das stärkere Signal wäre es, ein Schlüsselressort mit jemandem aus einer Einwandererfamilie zu besetzen oder noch besser: ein Staatsamt.
Die Chance ist jetzt da. Der Posten des Landtagspräsidenten oder der Landtagspräsidentin ist frei. Ihn darf die stärkste Fraktion im Parlament besetzen. Das sind – zum ersten Mal – die Grünen. Sie hätten eine ausgezeichnete Kandidatin. Muhterem Aras, 50 Jahre alt, geboren in Ostanatolien, groß geworden in Filderstadt. Finanzpolitikerin, gut organisiert, kämpferisch. Bei der Wahl 2011 wurde Aras grüne Stimmenkönigin, nun holte sie im Wahlkreis Stuttgart I 42,4 Prozent.
Die erste Parlamentspräsidentin von den Grünen, geboren in der Türkei. Sie wäre die oberste Parlamentarierin, ausgerechnet jetzt, da die AfD im Landtag von Stuttgart sitzt. Was wäre das für ein Zeichen! Genau: ein historisches.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen