Kommentar Verfassungsgericht: Wer Europa mit Leben füllt
Die Verfassungsrichter sehen vor ihrem Urteil zum EU-Reformvertrag das Dilemma. Man kann nur hoffen, dass von der Verhandlung kein Signal des nationalen Trotzes ausgeht.
Die Verfassungsrichter würden ja gerne ein kritisches Urteil zum EU-Reformvertrag sprechen. Zumindest würden sie der EU gerne sagen, wie sie sich in Zukunft demokratietheoretisch sauber weiterentwickeln kann. Aber je länger die Karlsruher Verhandlung über den Vertrag dauert, desto deutlicher wird, wie schwierig das ist.
Die Richter sehen das Dilemma. Einerseits müssen sich die europäischen Staaten zusammenschließen, wenn sie unter den Bedingungen des Weltmarkts überhaupt noch politisch handlungsfähig bleiben wollen. Anspruchsvolle Umwelt- und Sozialnormen können eben leichter durchgesetzt werden, wenn sie in der ganzen EU gelten - und nicht nur in Deutschland oder Belgien. Der Preis hierfür ist aber bekannt: Die Schaffung europäischer Normen ist weniger transparent und schlechter demokratisch zu kontrollieren.
Den Lissabon-Vertrag zu stoppen, würde in dieser Hinsicht aber kaum Abhilfe schaffen. Die zentralen Kritikpunkte an der EU-Integration würden ja weiter bestehen bleiben. Zum Beispiel: Bei Mehrheitsabstimmungen kann der deutsche Vertreter im Rat auch heute schon überstimmt werden. Im Europäischen Parlament sind die Kleinstaaten auch heute schon überrepräsentiert. Und der Europäische Gerichtshof interpretiert das EU-Recht auch heute schon meist integrationsfreundlich. Wer hier konsequent gegensteuern will, der stellt - trotz anderslautender Lippenbekenntnisse - die EU-Strukturen als Ganzes in Frage.
Man kann nur hoffen, dass von der zweitägigen Verhandlung in Karlsruhe kein Signal des Defätismus oder des nationalen Trotzes ausgeht. Die Richter haben die Chance, deutlich zu machen, dass das europäische Demokratiedefizit nicht durch institutionelle Reformen, sondern nur durch einen Mentalitätswechsel zu beheben ist. So müssten sich etwa die deutschen Politiker viel frühzeitiger um EU-Vorhaben kümmern. Auch deutsche Medien sollten darüber weit mehr berichten, und die deutsche Bevölkerung müsste sich dafür mehr interessieren als bisher.
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