Kommentar Tunesien: Eine unglaublich dreiste Despotie
Die regierenden Familien in Tunesien reißen wirklich jedes funktionierende Geschäft an sich. Den hungrigen Jungen bleibt nichts, geschweige denn Selbstrespekt und Würde.
D ie Wut macht sich Luft. Endlich. Eine Wut, die sich lange angestaut hat und immer mehr mit persönlicher Verzweiflung gekoppelt ist. Während sich die regierenden Cliquen in alter Clanmanier immer weiter dreist bereichern, darben große Teile der tunesischen Bevölkerung, vor allem die Jugendlichen, ohne Arbeit und ohne Aussicht auf eine ökonomisch abgesicherte Zukunft. Der tunesische Polizeistaat regiert und reagiert mit Repression. Hier herrschen die Despoten, die egomanischen Aussauger.
Die regierenden Familien reißen wirklich jedes funktionierende Geschäft an sich. Den hungrigen Jungen - und ihre Zahl ist in Tunesien wie in allen Maghrebländern überdurchschnittlich hoch - bleibt nichts, geschweige denn Selbstrespekt und Würde.
Wenn sich junge Akademiker öffentlich verbrennen, um Aufmerksamkeit zu bekommen, dann zeigt dies nicht nur ihre Ausweglosigkeit, sondern auch die Ignoranz, die ihnen im eigenen Land, aber auch hier in Europa entgegenschlägt. Sie fühlen sich doppelt verraten, weil Europa die Doppelzüngigkeit ihrer Machthaber stillschweigend und aus eigenem Interesse akzeptiert.
Edith Kresta ist Redakteurin für den Reiseteil der taz.
Tunesien gilt als sanftes Tor zur arabischen Welt und als azurblaue Urlaubshochburg. Es wird als Musterknabe des Maghreb gehandelt: die Frauen sind rechtlich gleichgestellt, die republikanische Säkularisierung ist längst durchgeführt. Tunesien wird von der EU finanziell unterstützt und hat das Privileg des fortgeschrittenen Status in der Zusammenarbeit. Es soll Drehscheibe europäischer Technologie, aber auch Bollwerk gegen Flüchtlinge aus Afrika und gegen islamistische Strömungen sein.
Dass mit dem Kampf gegen den politischen Islamismus gleich die gesamte Opposition ausgeschaltet wurde, das hat die EU stillschweigend hingenommen. Obwohl Organisationen wie Reporter ohne Grenzen Tunesien, was die Pressefreiheit angeht, auf dem 164. von 178 Plätzen führen und Menschrechtsorganisationen Folter, Unterdrückung und Zensur kritisieren.
Autoritäre Regierungen sind gewohnt, alles zu kontrollieren, und deshalb reagiert das Regime jetzt mit selbstverständlicher Brutalität und Unnachgiebigkeit. Doch das undemokratische Regime von Präsident Zine Ben Ali hat keine Zukunft, auch wenn er sich immer wieder mit Tricks und Verfassungsänderungen mit 96 Prozent der Stimmen zum Präsidenten küren lässt. Ein Schmierentheater.
Europa sollte nicht länger die Lügen des tunesischen Polizeistaates dulden, seine Geschäfte unterstützen. Es sollte die mutigen und verzweifelten Proteste nun endlich ernst nehmen und sich neue politische Partner suchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren