Der türkische Ministerpräsident sieht Handlungsbedarf bei der Justiz im Fall Yücel. Falsch: Die Staatsanwaltschaft muss Anklage erheben.
Binali Yildirim und Angela Merkel im Bundeskanzleramt
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Der türkische Ministerpräsident will also nicht zuständig sein. Er hoffe, dass Deniz Yücel bald seinen Prozess bekomme, sagte Binali Yıldırım am Donnerstagabend während seines Besuchs im Kanzleramt. Das sei aber Sache der Justiz, und die arbeite im türkischen Rechtsstaat unabhängig. Eine Behauptung, die die türkische Regierung regelmäßig wiederholt – und der die Bundesregierung bisher nicht widersprochen hat. Dabei ist sie offensichtlicher Blödsinn.
Im Fall Yücel müssen nicht die Gerichte den nächsten Schritt machen, sondern die Staatsanwaltschaft. Ihre Aufgabe ist es, nach über einem Jahr Untersuchungshaft endlich Anklage zu erheben – oder die Vorwürfe fallen zu lassen und das Ermittlungsverfahren einzustellen. Unabhängig agieren die Staatsanwälte in dieser Frage entgegen Yıldırıms Behauptung wohl nicht. Schon institutionell sind die Strafverfolgungsbehörden in der Türkei eng mit der Regierung verwoben. Und das ist an und für sich auch noch keine Schande.
Selbst in Deutschland handeln Staatsanwälte nicht unabhängig. Anders als Richter sind ihre Behörden den Justizministerien von Bund und Ländern unterstellt. Die Regierungen dürfen den Staatsanwaltschaften Weisungen erteilen und machen von diesem Recht auch Gebrauch.
Unter Juristen ist die Sinnhaftigkeit dieser Struktur zwar umstritten, für das Weisungsrecht gibt es aber zumindest einen guten Grund: Dürfen die Justizminister auf die Staatsanwälte Einfluss nehmen, sind sie für deren Entscheidungen politisch verantwortlich. Sie haben also ein sehr persönliches Interesse daran, grobes Unrecht zu verhindern – wenn nicht aus Überzeugung, dann zumindest, um selbst keinen politischen Schaden zu erleiden.
Deniz ist frei
Nach 367 Tagen in türkischer Haft ist der Journalist Deniz Yücel am 16. Februar 2018 freigelassen worden. Die freudige Nachricht verbreitete sich über die Sozialen Netzwerke - zusammen mit diesem Foto, das Yücels Anwalt Veysel Ok vor dem Gefängnis Silivri aufgenommen hat. Deniz umarmt seine Frau Dilek, die mit einem Strauß Petersilie auf ihn gewartet hat.
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Veysel Ok
Das Bild von Deniz und Dilek flimmert auch auf den Bildschirmen im Newsroom der Springer-Zeitung „Die Welt“, der Arbeitgeberin von Deniz Yücel, als Springer-Vorstand Mathias Döpfner, „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt und Außenminister Sigmar Gabriel eine Erklärung zur Freilassung von Yücel abgeben. Gabriel erklärt, er habe in den vergangenen Tagen zweimal mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan in der Sache telefoniert.
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Deniz Yücel saß ohne Anklage im Gefängnis. Die türkische Justiz wirft dem Ex-taz-Redakteur vor, Terrorpropaganda verbreitet zu haben. Yücel hält dagegen, er habe nur seine Arbeit als Journalist gemacht. Mit Deniz Yücels Freilassung hat das zuständige Gericht auch die Anklageschrift gegen ihn akzeptiert. Laut Nachrichtenagentur Anadolu fordert der Staatsanwalt darin bis zu 18 Jahre Haft für Yücel.
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Das Verfahren gegen Deniz wird also aufrechterhalten. Der hatte beim türkischen Verfassungsgericht Beschwerde gegen seine Haftbedingungen eingereicht und vor dem Europäischen Menschengerichtshof geklagt. Zum 1. Jahrestag seiner Inhaftierung versammelten sich Unterstützer_innen auf dem Dach der taz und verliehen ihrem Protest mit erhobenen Fäusten Ausdruck. Wer steckt unter den T-Shirts?
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Seine ehemaligen Kolleg_innen von der taz.
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Karsten Thielker
Im Laufe des vergangenen Jahres fanden zahlreiche Solidaritätsaktionen für Yücel statt. In Anlehnung an Yücels allgegenwärtige Zigarette im Mundwinkel versammelten sich am 14. November rund 150 Menschen vor dem taz-Gebäude zum „politischen Rauchen“ für seine Freilassung.
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Karsten Thielker
Gut einen Monat zuvor, am 10. Oktober, führten Mitglieder und Sympathisanten der gemeinnützigen „PixelHelper Foundation“ für Menschen- und Tierrechte in Berlin vor dem türkischen Konsulat einen „Haka“ auf. Sie wollten mit dem traditionellen Tanz der neuseeländischen Maori auf seine Inhaftierung aufmerksam machen.
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Im September rollten seine Unterstützer_innen und Freund_innen anlässlich seines Geburtstags bei einem lautstarken Korso mit Autos, Mopeds und Fahrrädern durch die Stadt, um ihre Solidarität zu demonstrieren.
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Am 21. Juni 2017 erhielt Deniz in Abwesenheit den Theodor-Wolff-Preis, den Journalistenpreis der deutschen Zeitungen. Seine Frau, Dilek Mayatürk-Yücel, nahm den Preis entgegen.
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Politiker der Grünen demonstrierten für seine Freilassung: Chris Kühn, Özcan Mutlu und Dieter Janecek (v.l.n.r.) zeigten am 9. April ihre Solidarität.
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Schon am 28. Februar fuhren hupende Autokorsos durch Berlin und zahlreiche weitere Städte. Die Demonstrant_innen forderten Freiheit für Yücel und alle weiteren inhaftierten Journalisten in der Türkei.
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Einige fuhren sogar mit dem Bus Korso – wie hier in Hannover. Mit dem Konterfei von Yücel taten sie ihren Unmut über die gegenwärtigen Stand der Pressefreiheit in der Türkei kund.
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Wer kein Auto hatte, stieg für die Pressefreiheit aufs Rad. Nur echt mit Schnauzer. Je suis Deniz!
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Auch der Springer-Verlag forderte immer wieder über sein Display am Dach der Zentrale in Berlin die Freilassung seines Korrespondenten.
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Nicht zu überhören sollte der Protest für die Kanzlerin sein. Der Korso passierte auch das Bundeskanzleramt, einige Fahrzeuge trugen die Aufschrift „Erdogan weghupen“. Merkel hatte die Entscheidung über die U-Haft für Yücel als „enttäuschend“ und „unverhältnismäßig hart“ bezeichnet.
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Grünen-Politiker Özcan Mutlu rief nach dem U-Haft-Beschluss am 28. Februar zur Demonstration vor der türkischen Botschaft in Berlin auf. Auch hier forderte man schlicht und einfach: „Free Deniz!“
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In seinem Heimatort Flörsheim (Hessen) gab es am 25. Februar einen Korso. Seine Schwester Ilkay Yücel war auch dabei.
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Erdogan-Kritiker Cem Özdemir machte sich mit Megafon vor der Botschaft für Deniz Yücel stark.
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Auch die taz-Redaktion zeigte schon früh Solidarität mit ihrem ehemaligen Mitarbeiter. Er hatte bis zum Frühjahr 2015 für sie gearbeitet. Für die Protestaktion nach seiner Verhaftung brachte die „Welt“ sogar Plakate und T-Shirts vorbei. So einig ist man sich selten.
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Der erste „Korso4Deniz“ fuhr schon am 19. Februar durch Berlin – als Protest gegen seine Gewahrsamnahme in Istanbul.
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Deniz in Istanbul an sonnigeren Tagen. Zu hoffen ist, dass er nach seiner Freilassung irgendwann wieder eine Kippe am Bosporusufer genießen kann.
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privat
Die türkische Regierung stiehlt sich aus ihrer Verantwortung, wenn sie jegliche Zuständigkeit für den Fall Yücel leugnet. Dass die Bundesregierung dabei mitspielt und ebenfalls von Entscheidungen einer unabhängigen Justiz spricht, ist wahrscheinlich Taktik: Sie will Erdoğan, Yıldırım und Co eine goldene Brücke bauen, um das Verfahren zu beenden, ohne das Gesicht zu verlieren.
Wenn die türkische Regierung aber partout nicht über diese Brücke gehen will, sollte die Bundesregierung über eine neue Taktik nachdenken: die Verantwortlichen klar benennen und den Rechtfertigungsdruck auf die türkische Regierung damit erhöhen.
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Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
Der türkische Premier Yildirim deutet an, dass sich im Fall des deutsch-türkischen Journalisten etwas bewegen könnte. Heute trifft er Kanzlerin Merkel.
Ich glaube, ich kenne die Ursache für die Verzögerungen:
Voriges Jahr äußerte Erdoğan, solange ER an der Macht sei, käme Yücel keinesfalls frei!
Nun rätseln die mit dem Fall befassten Juristen, wie ihnen der Spagat zwischen ihrer eigenen Kompetenz und Erdo’s rechtswidriger Kompetenzüberschreitung gelingt.
Hierfür gibt es ein Prinzip, das weltweit Anwendung findet: „Was du heute kannst verschieben, das verschiebe nicht erst morgen!“ …
auch die türkischen gerichte sind zuständig, wenn die staatsanwaltschaft untätig bleibt und keine anklage fertigt: sie können einen haftprüfungstermin anordnen und - bei fehlenden haftgründen - den u-häftling freilassen. soweit das türkische recht dem entgegensteht, kommt die menschenrechtskonvention zur geltung. im deutschen strafprozess gibt es eine frist von 6 monaten, nach denen ein u-häftling unabhängig vom tatverdacht vom gericht aus der u-haft entlassen werden muss, wenn nicht die besondere schwierigkeit oder der besondere umfang der ermittlungen oder ein anderer wichtiger grund das urteil noch nicht zulassen und die fortdauer der haft rechtfertigen. auch die anwälte können mit einem antrag auf haftprüfung dem verfahren der u-haft mit dem ziel fortgang geben, den häftling freizulassen. nichtsdestotrotz ist die staatsanwaltschaft als handlanger der türkischen regierung in der pflicht, denn der freiheitsentzug ist der grösstmögliche eingriff des staates in die persönlichkeits- und freiheitsrechte des einzelnen.
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