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Kommentar Türkei GrubenunglückEine neue Dimension der Wut

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Ereignisse in der Türkei hätten andere Regierungschefs längst zum Rücktritt gebracht. Nicht so Erdogan. Der wird immer wütender.

In der Türkei prügelt nicht mehr nur die Polizei. Sogar Ministerpräsident Erdogan soll handgreiflich geworden sein. Bild: reuters

E s sind oft Bilder, einzelne Schnappschüsse, die eine dramatische Situation auf einen Punkt verdichten. Im letzten Sommer, als sich die Proteste um den Istanbuler Gezipark zu einem landesweiten Aufstand ausweiteten, war es das Foto von der Frau in Rot: Eine zierliche Frau in einem roten Sommerkleid läuft allein durch den Park und wird von der Polizei mit Tränengas angegriffen. Ein völlig grundloser Akt der Aggression, der das Vorgehen der Polizei gegen friedliche Protestler für jeden Betrachter deutlich machte.

Im Konflikt um die tödliche Kohlenmine in Soma hat nun das Foto des tretenden Erdogan-Beraters Yusuf Yerkel das Potenzial, zum Symbol einer Regierung zu werden, die angesichts Hunderter Toter nicht trauert, sondern die Trauernden auch noch mit Füßen tritt.

Dass Erdogans Polizei prügelt, ist seit dem Mai 2013, als die Proteste im Gezipark begannen, schon fast wöchentliche Routine. Jede noch so kleine Ansammlung protestierender Menschen rund um den zentralen Taksimplatz wird seitdem brutal niedergeknüppelt.

Jetzt, ein Jahr später, sind wir leider noch einen Schritt weiter. Es ist nicht mehr nur die Polizei. Jetzt legen ein enger Berater Erdogans und nach etlichen Berichten aus Soma sogar der Ministerpräsident selbst Hand an. Yusuf Yerkel tritt einen Demonstranten zusammen. Tayyip Erdogan soll angeblich einen Mann, der gegen sein Auto getreten hat, geohrfeigt haben.

Bei Erdogan und seiner engeren Mannschaft liegen die Nerven blank. Nach den Geziprotesten kamen Korruptionsvorwürfe und diskreditierende Tonbandaufnahmen, jetzt folgte die schlimmste Arbeitskatastrophe der Türkei, weil Erdogan und seine Regierung Profit und Wachstum vor Sicherheit und menschenwürdige Bezahlung setzen. Es sind Ereignisse, die andere Regierungschefs längst zum Rücktritt gebracht hätten, nicht so den türkischen Ministerpräsidenten. Der wird stattdessen mit jedem Ereignis wütender.

Doch sein Volk lässt sich nicht mehr einschüchtern. Im ganzen Land wurde am Donnerstag demonstriert – das Bild vom tretenden Regierungsberater ist geradezu ein Mobilisierungsfaktor. Die schroffe Zurückweisung jeder Verantwortung für die Tragödie in Soma wird jetzt zum Katalysator für die Demonstrationen zum Jahrestag der Geziproteste. So wird aus drohender Resignation neue Wut.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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12 Kommentare

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  • Meiner Meinung nach zeugt allein die Tatsache, dass es soweit kommt, von einem oder mehreren real existierenden Problemen. Dann einfach weiter so schreien und nicht den Dialog öffnen scheint mir töricht.

    • @SomeoneOutThere:

      Wer sagt Ihnen denn, dass Erdogan nicht den Dialog suchen würde? Nur dass die dortige Opposition möglicherweise keinen Dialog sucht und DIE Bilder produziert, die dann die westliche Presse für ihre vermeintliche These des autokratischen/diktatorischen Erdogans als vermeintliche Beweise nutzt, kommt natürlich den westlichen Lesern, die dieser Gehirnwäsche ausgesetzt sind, nicht in den Sinn!

      Z.B. denkt jeder, Erdogan hätte die "friedlichen" Gezi-Proteste "brutal niedergeschlagen". Dass er die Umweltschützer empfangen hat und Ihnen - wie übrigens Stuttgart21 - ein Referendum vorgeschlage hat, den die Umweltschützer abgelehnt haben (d.h. wer nicht tut was ich will ist ein Diktator) und darüberhinaus noch den Sturz der Regierung verlangt haben , ist wahrscheinlich bei westlichen Lesern nicht angekommen. In der Türkei sind dann Wasserwerfer brutales Vorgehen gegen "friedliche Demonstranten", dieselben Bilder in Hamburg, Paris, Washington usw. sind dann Wiederherstellung der Ordnung durch die legitime Staatsmacht gegen Chaoten, Molotofwerfer und bbrutale Demonstranten.

      Kann mir denn das einer erklären.

      In der Türkei herrscht Demokratie! Es gibt eine Verfassung, die allgemeine Rechte schützen, es gibt freie Wahlen, Opposition und die Unterwerfung der Türkei dem europ. Gerichtshof. Darüberhinaus gibt es eine freie Presse in der Türkei - ich behaupte, eine freiere als in Deutschland!!! Es gibt nämlich Zeitungen und Fernsehsender, die den ganzen Tag nichts anderes tun als über Erdogan herzuziehen, und das nicht zaghaft, wovon die westlichen Leser keine Ahnung haben.

      Wenn denn der Erdogan so ein übler Bursche ist, warum wählt Ihn denn dann eine überwältigende Mehrheit des türkischen Volkes? Sie hat doch die Wahl auch eine andere Partei zu wählen!?

      • @mr_comment:

        "Überwältigende Mehrheit des türkischen Volkes"????

        Bei den Kommunalwahlen, die Erdogan höchstpersönlich zu einer Abstimmung über seine Politik machte, stimmten 45 % für Erdogan und 55 % für Oppositionsparteien. Eine "überwältigende Mehrheit" sieht anders aus.

        • @vulkansturm:

          Wenn Sie damit zufrieden sind, dass Erdogan "nur" 45 % bekommen hat, dann ist ja alles in Ordnung. Dann bin ich auch zufrieden.

      • @mr_comment:

        Stimmt schon. Auch in Deutschland kommen Wasserwerfer zum Einsatz. Aber noch prügelt der bodyguart der Merkel nicht auf am Boden liegende Demonstranten ein. Deine Vergleiche hinken arg. - Warum der üble Bursche gewählt wird? Himmel, das frage ich mich auch. Die Religion ist mächtig, leider!

        • @RPH:

          Für Erdogangegner gilt Folgendes:

          Wenn Erdogan gewählt wird, dann deshalb weil...

          ... er das Volk schmiert

          ...er die Wahlen fälscht

          ...weil die Religion benutzt

          ...weil er "nationalistisch konservativen religiöse" Gedanken bedient usw.

          Dass er möglicherweise gewählt wird, weil die Leute einfach zufrieden sind mit seiner Politik, darauf kommt keiner.

          Denn: es kann nicht sein, was nicht sein darf!

        • @RPH:

          Welcher Vergleich hinkt denn bitteschön? Ich habe Wasserwerfer in der Türkei mit Wasserwerfern in DE und anderen Staaten verglichen und nicht offensichtlich unfähige Bodyguards, die auf Demonstranten einschlagen mit deutschen Polizisten, die auf Türken einschlagen verglichen; nicht einmal von 9 toten Ausländern gesprochen, wo der tiefe deutsche Staat mit involviert ist.

        • @RPH:

          Die Religion kann da wenig dafür eher die Menschen die auf Parteien reinfallen die sich konservativ nationalistische Werte auf das Banner geschrieben haben. Seit dem Irak Krieg sind die Türken indirekt gezwungen worden Stellung zu beziehen. Aus dem allierten und durchaus geliebten Westen kahmen nur verbale Ohrfeigen, Hetze gegen Muslime und ein recht klares nein zur Zugehörigkeit Europas. Die meisten haben sich gedacht, ihr könnt uns mal "kreuzweise" wir brauchen niemanden wir sind eine eigene Macht womit sie nicht Unrecht haben. Diese Stimmung hat sich der Erdogan zu Nutze gemacht mit seiner nationalistisch konservativen religiösen Ausrichtung und den durchaus großen wirtschaftlichen Boom in der Türkei. Selbstverständlich sagen Wahlen viel aus aber man sollte auch berücksichtigen das Wahlbezirke zu Gunsten der AKP verschoben wurden und irgednwo muß die Propaganda und das Mund tot machen von Kritikern Wirkung zeigen. Nach diesen sehr unglücklich gewählten Worten wird es halt wieder Ärger egebn, noch zögern die Demonstranten und das Militär scharf zu schießen...

  • Lieber Herr Gottschlich,

    Sie und der Rest der gleichgeschalteten deutschen Presse spielen das Spiel vom good boy (Staatspräsident Gül) und bad boy (Ministerpräsident Erdogan) hervorragend.

    Das Ergebnis sind Leser/Kommentatoren wie z.B. Vulkano, der wahrscheinlich überhaupt keine Ahnung hat von türkischer Politik, der aber als Ergebnis einer Gehirnwäsche durch die gleichgeschaltete deutsche Presse, die Vorgaben der Regierung(und leider auch der Opposition, die am gleichen strang zieht) artikuliert.

    Nehmen wir dieses Unglück und vergleichen mal mit einem ähnlichen Unglück aus Deutschland! Welcher Minister oder gar Kanzler/Kanzlerin ist nach einem Grubenunglück in Deutschland zurückgetreten? Ist denn der Transportminister zurückgetreten nach dem Bahnunglück in Eschede?

    Sind denn Massen als Folge davon Molotofcocktail schmeißend auf die Straße in Deutschland?

    Es ist eine Unverschämtheit zu schreiben, Erdogan würde nicht trauern, aber Gül. Und das glauben dann auch Ihre Leser. In dem Fall geht es nicht um Erdogan; ich versichere Ihnen, jeder Ministerpräsident würde und wird trauern, wenn ffast 300 Leute verunglückt sind!

    Ich möchte Sie (und Ihre Leser) schon wieder erhellen!

    Es geht um was ganz anderes: Deutschland will keinen starken Erdogan, der die Interessen der Türkei durchsetzt; DE wär's lieber mit einem schwachen Gül zu verhandeln. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in der Türkei kein Regierungsproblem, sondern ein Oppositionsproblem; die nämlich mißbraucht sogar so ein Unglück um auf dem Rücken der Toten Politik zu machen und treibt so die wütende Menge auf die Straße, wissend, dass sie niemals durch eine Wahl Erdogan stürzen kann!

    Und nun zur Erhellung: egal was Sie als Handlanger gleichgeschalteter Presse der Regierung auch schreiben: Erdogan wird im August direkt vom Volk gewählt werden und das ist gut so!

  • Erdogan bellt wieder mal wie ein wütender Hund, der an einer Neurose leidet. Seine Reden sind längst keine Reden eines Staatsmannes mehr. Für wohl formulierte Reden ist der Staatspräsident Gül da. Erdogan bellt wütend weiter und schafft sich immer mehr Feinde im Inland wie im Ausland. Seine Zeit ist vorüber und nur er scheint das selbst nicht gemerkt zu haben und einige Türken, die immer noch ihrem geliebten Führer bedingungslos ergeben sind..

    • @vulkansturm:

      Der Hund ist Dosenfutter satt,

      weil er schon Neurosen hat.