Kommentar Studie zu rechten Jugendlichen: Fragwürdiges Zahlenspiel
Wie stark sind Jugendliche in rechten Gruppen organisiert? Die Ergebnisse einer Studie aus Hannover widerspricht den Zahlen vom Verfassungsschutz. Eine Klärung ist notwendig.
Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen ist ein Medienstar. In regelmäßigen Abständen liefert er bemerkenswerte Befunde - zur Spielsucht der Jugendlichen, zur innerfamiliären Gewalt in Einwandererfamilien oder zur Langzeitwirkung der DDR-Erziehung ("Töpfchenthese"). Nun versorgt er die Talkshows mit neuem Stoff: Knapp 4 Prozent der 15-Jährigen seien Mitglied in rechtsextremen Gruppen oder Kameradschaften. Dabei sind Jungen mit 4,9 Prozent vertreten und Mädchen mit 2,6 Prozent. In absoluten Zahlen heißt das: 34.000 Jugendliche sind rechtsextrem organisiert.
Sollten die Zahlen auch nur annähernd stimmen, dann hat Deutschland, allen voran das Innenministerium, ein Problem. Denn das Bundesamt für Verfassungsschutz geht in seinem jüngsten Bericht landesweit von rund 31.000 organisierten Rechtsextremisten in allen Altersgruppen aus. Kann es sein, dass mehr als 100 (!) Prozent der organisierten Rechtsextremisten im Land 15-Jährige sind? Wohl kaum. Deshalb lässt die Studie aus Hannover nur zwei Schlussfolgerungen zu. Entweder der Verfassungsschutz operiert seit Jahren mit viel zu niedrigen Zahlen, um das Problem des Rechtsextremismus zu verniedlichen. Das wäre ein innenpolitischer Skandal erster Güte, und Minister Wolfgang Schäuble hätte einiges zu erklären. Oder aber Pfeiffers Institut ist ein peinlicher Fehler unterlaufen, der medientauglich ist, aber die Lage im Land unnötig dramatisiert.
Im Interesse der Bürger ist eine schnelle Antwort auf die Frage nötig: Wer hat recht, Schäuble oder Pfeiffer? Solange unklar ist, ob das niedersächsische Institut unter rechten Gruppen/ Kameradschaften das Gleiche versteht wie das Innenministerium, verbietet sich eine weiterführende Diskussion und Interpretation der Ergebnisse.
Das ist bedauerlich, denn die Studie hat Potenzial. So wurden regionale Unterschiede bei der Begeisterung für rechtsextremistische Ideologien ebenso erhoben wie die Abhängigkeit von Bildung. Aber ob die Zahlen uns wirklich etwas sagen, das hängt nun von der Klärung der Seriosität und Brauchbarkeit der benutzten Kategorien ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Brände in Los Angeles
Das Feuer der Resignation
Julia Klöckner löscht AfD-Post
CDU bietet „was ihr wollt“
Habeck-Werbung in München
Grüne Projektion
CDU will „Agenda 2030“
Zwölf Seiten rückwärts
Verteidigung, Trump, Wahlkampf
Die nächste Zeitenwende
Israelische Angriffe auf Gaza
Können Journalisten Terroristen sein?