Kommentar Streiks: Paradoxer Arbeitskampf
Ein Streik erzeugt Druck, wenn er die Kleinen trifft. Traurig sind Streiks, die keiner bemerkt, wie der Arbeitskampf der VerkäuferInnen im Einzelhandel.
F rüher, als die Klassenschranken noch klar erkennbar waren, soll alles ganz einfach gewesen sein mit dem Streik: Die Beschäftigten legten die Arbeit nieder, die Unternehmer hatten den Schaden. Und wenn alles gut lief, bekamen die Streikenden wenigstens teilweise das, was sie forderten. Heute ist alles anders. Wer sich dieser Tage durch die Nachrichtenagenturen wühlt, um herauszufinden, wo und wie überhaupt gestreikt wird, stößt auf eine Vielzahl von Streiks, die das Paradoxe an der Arbeitskampfmaßnahme düster ahnen lassen.
Das traurigste Beispiel ist der Streik, den keiner gemerkt hat: Es ist der Arbeitskampf der VerkäuferInnen im Einzelhandel, die gegen den Verlust der Zuschläge für Spätarbeit kämpfen. Da der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Einzelhandel niedrig ist, wurde nur sporadisch gestreikt. Außerdem konnten die Unternehmen dies durch Leiharbeitskräfte leicht auffangen. Gerade in Branchen mit vielen prekär Beschäftigten kann das Mittel eines organisierten Arbeitskampfes kaum angewandt werden - obgleich es dort bitter nötig wäre.
Ein weiteres Beispiel für die Widersprüchlichkeit des Ausstandes ist der Streik der Orchestermusiker: Um gegen die mangelnde Beteiligung an Lohnerhöhungen zu protestieren, setzten die Flötisten, Violinisten und Blechbläser einiger Orchester bei den Proben nur ein Viertelstündchen aus. Man will ja die Aufführungen nicht gefährden und damit das Publikum enttäuschen. Richtig paradox in Sachen Gerechtigkeit erscheint der Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Wenn die U-Bahnen und Busse stillstehen, trifft das etwa geringverdienende Ehefrauen, die kein eigenes Auto besitzen und sich ein Taxi nicht leisten können.
Streiks konkurrieren auch um öffentliche Aufmerksamkeit. Da der Lokführer-Ausstand gerade beendet wurde, schafft der Arbeitskampf in Berlin nun die bange Frage: Wer streikt denn jetzt noch? In Frankreich und Italien wird aber öfter gestreikt als in Deutschland. Und es gibt kaum eine Alternative für Beschäftigte, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Mit Solidaritätslogik hat das nicht unbedingt etwas zu tun.
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