Kommentar Stichwahl Ukraine: Schluss mit lustig
In der Ukraine geht es um mehr als das Rennen zwischen einem Komiker und einem Oligarchen. Es geht um Demokratie.
I n der Ukraine könnte am 21. April 2019 Schluss mit lustig sein. Dann treffen in der Stichwahl für den Posten des Präsidenten der TV-Komiker Wolodimir Selenski und Amtsinhaber Petro Poroschenko aufeinander. Angesichts der Möglichkeit, dass bald ein politischer Quereinsteiger an der Spitze des Staates stehen könnte, reicht die Bandbreite der Reaktionen im In- und Ausland von ungläubigem Staunen bis zu blankem Entsetzen.
Wilde Spekulationen vieler Kommentatoren lassen vielfach in den Hintergrund treten, unter welchen erschwerten Bedingungen diese Wahlen stattfinden. Über die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim redet auf internationalem Parkett fast niemand mehr. Das Minsk-II-Abkommen, das den Weg zu einer friedlichen Lösung des Konflikts im Donbass ebnen sollte, ist mausetot. Stattdessen sind in dem Krieg um die von prorussischen Kämpfern kontrollierten Gebiete Donezk und Lugansk, der nach Angaben der UNO bislang fast 13.000 Menschen das Leben gekostet hat, fast täglich weitere Opfer zu beklagen.
Doch so schwierig dieser Kontext auch ist, so wenig taugt er als Rechtfertigung für die zahlreichen Defizite, die auch für diesen Abstimmungsprozess charakteristisch waren. Wieder einmal wurde das sattsam bekannte Programm abgespult: Plumpe Wahlfälschungsversuche, Fake-Bewerber auf den Wahllisten, Missbrauch administrativer Ressourcen durch Poroschenko sowie die fragwürdige Rolle von Medien in Oligarchenhand.
Besonders schwer wiegt, dass viele der 1,8 Millionen Binnenflüchtlinge von ihrem Stimmrecht aufgrund bürokratischer Hindernisse keinen Gebrauch machen konnten. Genauso wenig, wie die über zwei Millionen UkrainerInnen in Russland, weil Kiew dafür gesorgt hatte, dass für sie dort keine Wahllokale verfügbar waren. Und dennoch: Die UkrainerInnen haben eine Wahl.
Vorbild Ukraine
Das ist, wie ein Blick in die Nachbarländer Weißrussland und Russland zeigt, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion keineswegs selbstverständlich. Unter der Überschrift „Wir wollen so etwas wie in der Ukraine“, sinnierte der russische Journalist Wladimir Ruwinski in der Zeitung Wedomosti über die TV-Debatten zwischen Kandidaten, die es, anders als in der Ukraine, in Russland nicht gebe. Denn dort stehe der Sieger schon vorher fest. „In der Ukraine gibt es einen echten Wettbewerb“, schreibt Ruwinski. 2017 hat Präsident Wladimir Putin seinen Landsleuten die Frage gestellt: Wollen wir, dass Russland so wie die Ukraine ist? „2019 wäre die Antwort wohl ein überwältigendes Ja.“
Mindestens genauso bemerkenswert wie der Umstand echter Alternativen ist jedoch das Votum der UkrainerInnen. Nehmen wir Noch-Präsident Petro Poroschenko. 2014 hatte er mit 54,7 Prozent der Stimmen bereits im ersten Wahlgang alles klargemacht, am 31. März kam er lediglich auf 16,6 Prozent. Dieses Ergebnis ist ein klare Absage an ein korruptes Oligarchensystem in der Ukraine, für das eben auch Poroschenko steht. Perfekt dazu passte kurz vor dem ersten Wahlgang das Bekanntwerden einer Schmuggel-Affäre um russische Waffen, in die ein enger Vertrauter Poroschenkos verwickelt sein soll.
Das magere Ergebnis des Amtsinhabers zeigt aber auch die Unzufriedenheit der WählerInnen mit ihrer wirtschaftlichen Situation, verschleppten Reformen und mit den sich häufenden Angriffen auf Aktivisten und kritische Journalisten. Poroschenkos Wahlslogan lautete „Armee! Sprache! Glaube!“ Der Dreiklang zielte auf die Modernisierung der Streitkräfte, die Privilegierung der ukrainischen Sprache im öffentlichen Raum sowie die Anerkennung der ukrainisch-orthodoxen Kirche durch das ökumenische Patriarchat in Istanbul. Doch die Anbiederung bei den nationalistisch eingestellten WählerInnen verfing nicht.
Mehrheit für EU- und Nato-Beitritt
Vielleicht hätte Poroschenko einmal aktuelle Umfragen lesen sollen. Laut einer Erhebung des Internationalen Soziologischen Instituts in Kiew von Mitte März haben 57 Prozent der Befragten eine positive Einstellung gegenüber Russland und 77 Prozent gegenüber den RussInnen. Nur 7,8 Prozent finden, dass die russische Sprache aus dem Bildungssystem verbannt werden soll und 53,5 Prozent lehnen die Entscheidung der Kiewer Regierung ab, russische Medien in der Ukraine zu verbieten. Diese Werte sind nicht nur ob des andauernden Konflikts mit Russland erstaunlich, sondern auch, weil die Mehrheit der Ukrainer für einen Beitritt zur EU und Nato ist.
Nicht zuletzt dieser Trend mag eine mögliche Erklärung für den unerwartet klaren Erfolg des Komikers Wolodimir Selenski in der ersten Runde sein. Als frisch, unverbraucht und neues Gesicht in der Politik wahrgenommen, punktete er in allen Landesteilen. Bislang hat der 41-Jährige kein klares Programm, er selbst ist Programm. Doch klar ist, worauf er nicht setzt: auf die „zwei Ukrainen“ – die traditionelle Umschreibung für den angeblich unversöhnlichen Gegensatz zwischen West- und Russlandfixierung – sowie die Dämonisierung äußerer und innerer Feinde der Ukraine.
Anstatt die Möglichkeit, in der Gesellschaft Brücken zu bauen, als Chance zu erkennen, arbeiten sich Beobachter in endlosen Risikoanalysen lieber an Selenskis politischer Unerfahrenheit ab. Warum, fragt man sich, soll hier der Grundsatz „learning by doing“ eigentlich nicht gelten?
Die Entwicklung bleibt unvorhersehbar
Hinzu kommt, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Präsident und Parlament seit einer Verfassungsänderung 2014 zugunsten der Abgeordnetenkammer und der Regierung verschoben hat. Dadurch geraten nolens volens die Parlamentswahlen im kommenden Herbst in den Blick. Ihr Ausgang wird maßgeblich mit darüber entscheiden, wie die Weichen in der Ukraine gestellt werden.
Und darüber, inwieweit Selenski, der bislang noch über keinen Rückhalt durch eine eigene Partei verfügt, Politik wird gestalten können. Die Entwicklung in der Ukraine bleibt unvorhersehbar. Ist nicht allein schon das ein kleiner Sieg auf dem Weg hin zu einer Demokratie?
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