Kommentar Serbiens EU-Ambitionen: Koalition des Vergessens
Serbien zahlt einen hohen Preis für seine proeuropäische Regierung. Die Vergangenheitsbewältigung wird aufs Erste beiseite gestellt.
Den Entschluss des serbischen Präsidenten Boris Tadic, mit den Sozialisten der SPS eine Koalitionsregierung zu bilden, kann man nachvollziehen. Mit ihnen hofft er, Serbien geradewegs in die EU zu führen. Die Sozialisten hätten sich andernfalls ihren natürlichen ideologischen und historischen Partnern im nationalistischen Block zugewendet, was auf lange Zeit das Ende der europäischen Integration Serbiens bedeutet hätte.
Den Segen aus Brüssel hat Tadic für seinen Pragmatismus bekommen. Für die EU ist nur wichtig, dass Serbien um der Unabhängigkeit des Kosovo nicht mehr allzu viel Aufhebens macht und brav seine Hausaufgaben erfüllt. Wenn dafür die politischen Erben von Slobodan Milosevic rehabilitiert werden müssen, dann soll es eben so sein.
Die Frage ist nur, welchen Preis Serbien dafür zahlt. Klar, so wird es an den Entwicklungsfonds der EU und begünstigte Handelsverträge kommen. Aber verspricht es politische Stabilität, wenn nur die Wirtschaft stabilisiert, nicht jedoch die Gesellschaft reformiert wird? Diese Frage stellt sich für Serbien wie für alle anderen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien und das Kosovo.
Die Liebesbekundungen, mit denen Tadic zuletzt um die Sozialisten warb, empfanden viele Serben als Beleidigung der Opfer des Milosevic-Regimes. Sie lassen befürchten, dass die Vergangenheitsbewältigung künftig von der Tagesordnung gestrichen wird, um die Einheit der Regierung nicht zu gefährden. Was soll man sich auch mit Fragen von Völkermord, ethnischen Säuberungen und andere Kriegsverbrechen plagen, wenn Auslandsinvestitionen in Milliardenhöhe winken?
Tadic scheint bereit, vielen Serben ihre Illusion zu lassen, dass Milosevic Feldzüge irgendwie gerechtfertigt waren. Was die Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten angeht, stimmt das wenig optimistisch. Es steht auch im völligen Gegensatz zur Auffassung der EU, deren Mitglied Serbien werden möchte. So werden die bösen Geister der Vergangenheit nicht bekämpft, sondern nur in eine Flasche gestopft. Doch diese kann jederzeit wieder geöffnet werden. ANDREJ IVANJI
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