Kommentar Schweiz: Später Sieg der politischen Vernunft
Die Nichtwahl des Schweizer Justizministers Blocher widerspricht den Prognosen aller Beobachter - und ist eine Sternstunde für die Demokratie.
D ie Nichtwahl von Justizminister Christoph Blocher von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) durch das Berner Parlament ist eine Sensation, widerspricht sie doch den Prognosen ausnahmslos aller BeobachterInnen. Vor allem aber ist diese Nichtwahl eine Sternstunde der Demokratie. Ein Sieg all der Anständigen, auch in den bürgerlich-konservativen Parlamentsparteien. Die nämlich ließen sich nicht einschüchtern durch die erpresserische Drohung der SVP-Führung, im Fall der Nichtwahl Blochers werde die Partei die Regierung verlassen und in die Opposition gehen.
Das gilt selbst dann, wenn Blochers gewählte Gegenkandidatin Eveline Widmer-Schlumpf vom moderaten Flügel der SVP unter dem Druck der Parteiführung doch noch einen Rückzieher machen sollte. Bleibt sie aber standhaft und zieht in den Bundesrat ein, könnte dies weitreichende Folgen für das eidgenössische Politiksystem haben. Zunächst einmal dürfte sich die SVP spalten und der moderate Flügel möglicherweise den Anschluss an die Christliche Volkspartei suchen. Das würde wahrscheinlich das Ende der seit Jahrzehnten praktizierten Zauberformel bei der Verteilung der sieben Regierungssitze auf die vier stärksten Parlamentsparteien bedeuten. Damit wäre auch ganz grundsätzlich das nicht nur in Europa, sondern in der Welt einzigartige eidgenössische Konkordanzsystem in Frage gestellt.
Dieser Mechanismus des ständigen Einigungszwangs unter den vier stärksten Parteien, verbunden mit den weitgehenden Mitentscheidungsrechten des Volkes auf allen politischen Ebenen, hat erhebliche Vorteile und ist wohl eine der wesentlichen Gründe dafür, dass die Schweiz zu den stabilsten Demokratien überhaupt zählt. Vor allem die rechtspopulistischen Hardliner der SVP um Blocher traten in den letzten Jahren immer wieder mit der Drohung auf, dieses bewährte System aufzusprengen und damit in der Schweiz ein "normales" politisches System mit Regierung und parlamentarischer Opposition zu installieren. Dass dies jetzt vielleicht so kommt, weil Blocher gescheitert ist, hatten sie allerdings nicht auf der Rechnung.
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