Kommentar Schweinegrippe: Der Frankenstein-Komplex
Die Ähnlichkeiten zwischen Finanzkrise und Schweinegrippe sind offensichtlich: Das System wendet sich gegen den Menschen.
E s ist eine alte Weisheit unter Publizisten, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht auf zwei Bedrohungen gleichzeitig konzentrieren könne. Aber manchmal gibt es Ausnahmen von der Regel. Gestern fielen die Börsenkurse aus Angst vor der Schweinepandemie. "Der DAX hat die Grippe", witzelten Börsenanalysten. Jetzt verstärkt die Schweinegrippe auch noch die Finanzkrise. Der Risikogesellschaft droht das Multiorganversagen.
ROBERT MISIK ist taz-Autor und lebt in Wien. Er videobloggt unter misik.at.
Nicht zufällig hat sich der Begriff "Risikogesellschaft" für moderne, komplexe Gesellschaften eingebürgert, obwohl sie angesichts der vielen Institutionen der Bedrohungsabwehr doch ebenso gut auch als "Sicherheitsgesellschaften" charakterisiert werden könnten.
Aber es ist nun einmal so: Wir sind immer öfter mit Geschehnissen konfrontiert, die uns auf sehr neuartige Weise Angst machen. Aids, Super-GAU, Sars, Vogelgrippe, Finanzkrise und jetzt die Schweinegrippe.
Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Phänomenen sind offensichtlich. Die Erreger verbreiten sich lautlos, die Gefahr kann überall sein und ihr Kennzeichen ist, dass wir keine Erfahrung mit ihnen haben. Die Bedrohung ist "irgendwo" da draußen, aber gleichzeitig potenziell überall. Der Finanzmarkt-GAU in irgendwelchen Glasfaserkabeln, der Krankheitserreger in der Atemluft, in den Speichelpartikeln zufälliger Passanten. Was ist da gefährlich? Küssen? Oder ist schon atmen potenziell tödlich? Und wenn ja: Die Einstellung der Atmung ist ja auch nicht gesund.
Gerade die Abstraktheit dieser Gefahren lässt sie äußerst bedrohlich erscheinen. Anders als, beispielsweise, eine Hitzewelle - obwohl eine solche gelegentlich auch schon mal tausende Tote gefordert hat.
Gewiss gibt es im konkreten Fall noch einen Ekelfaktor. Wer will schon fast die "gleiche" Krankheit haben wie das Schwein von nebenan, das sich den halben Tag in seiner Scheiße suhlt? Hinzu kommt eine Art Frankenstein-Schauer: Die Nutztiere, die von uns Menschen gezüchteten und gehaltenen Nahrungslieferanten, bedrohen uns plötzlich. Ein Virus "mutiert", was, wenngleich das häufiger vorkommt, allein schon einen futuristisch-bedrohlichen Beiklang hat. Was wir aus Eigennutz produzierten, wird plötzlich zur todbringenden Gefahr. Das Essen ist ansteckend.
Womit wir übrigens wieder bei den Ähnlichkeiten zwischen der Schweinegrippe und dem Kapitalismus wären. Nicht zufällig hat Karl Marx seine Erzählung über den Kapitalismus in Anlehnung an Mary Shelleys Frankenstein-Geschichte modelliert: als System, vom Menschen geschaffen, das sich gegen diesen wendet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“