Kommentar Scheindebatten: Wo leben wir eigentlich?
Noch nie nach 1945 war die politische Lage an so vielen Orten so explosiv. Doch die deutsche Politik beschäftigt sich mit der Maut.
L eicht kann man dieser Tage verzweifeln. In der Welt ist buchstäblich der Teufel los, doch hierzulande beschäftigt sich die Politik vor allem mit Wohlstandssicherung und Kinkerlitzchen wie der Maut. Gleichzeitig gibt es eine extensive Berichterstattung über Bürgerkriege und Gewalt, denn an den politischen Brennpunkten von der Ukraine über den Irak und Syrien bis nach Israel und Libyen brennt es wirklich. Noch nie nach 1945 war die politische Lage an so vielen Orten so explosiv wie momentan in Osteuropa und im Nahen Osten.
In den genannten Ländern, aber auch anderswo – etwa in Afrika – schaukeln sich Konflikte reihenweise zu brutalen asymmetrischen Kriegen hoch, durch die Hunderttausende vertrieben und ins Flüchtlingselend gezwungen werden. Die Signatur des noch jungen 21. Jahrhunderts bilden kaum übersehbare Flüchtlingsströme und riesige Flüchtlingslager.
Im Zentrum des medialen Interesses steht aber nicht dieses unglaubliche Elend, sondern die grausamen Propagandavideos etwa der Miliz Islamischer Staat (IS). Ganz im Sinn von IS verbreitet die Presse die spektakulären Nachrichten und Bilder der Massenmorde. Die Empörung darüber verpufft schnell, es geht um Knalleffekte, mehr nicht.
ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. 2013 erschien im Oktober Verlag Münster der dritte Band mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen: "Aufgreifen, begreifen, angreifen".
Die Verbrechen dagegen sind wirklich geschehen und von für die westliche Öffentlichkeit weitgehend gesichtslosen terroristischen Organisationen zu verantworten, über deren Herkunft, Rekrutierungsmethoden und Finanzierung es vielerlei Gerüchte und Spekulationen gibt, aber nur spärliche belastbare Fakten und Informationen. Belanglosigkeiten ersetzen vertiefende Analysen.
Automobiler Wahnsinn
Blickt man als politisch interessierter Zeitgenosse auf die deutschen Diskussionen in diesem Sommer, kann man nur staunend oder verzweifelnd fragen: Wo leben wir eigentlich? Zum Thema Nummer eins wuchs sich über Tage und Wochen die bayerische Marotte aus, ausländische Autofahrer auf deutschen Straßen und Autobahnen abzukassieren.
Das Vorhaben hat mit der rundum vernünftigen Idee, dass alle jene für Belastungen zahlen sollen, die diese verursachen, gar nichts zu tun. Davon ist seriös nicht die Rede, dafür von allerlei Schein- und Randproblemen, die den Kern – den automobilen Wahnsinn – nicht einmal berühren. Die Bundesregierung plant im Sommerloch ein Gesetz gegen „Sozialmissbrauch“, obwohl Daten dazu fehlen oder – soweit sie vorliegen – diese nur belegen, dass „Sozialmissbrauch“ durch Einwanderer aus dem südöstlichen Europa, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen, statistisch seltener vorkommt als der Missbrauch der Sozialsystem durch Deutsche. Dessen ungeachtet werden Einwanderer aus Südosteuropa pauschal und präventiv unter Generalverdacht gestellt.
Schlampige Flüchtlingspolitik
Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung diktieren auch den Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, die es trotz des EU-Grenzregimes und der rigorosen Abschiebepraxis nach Europa geschafft haben. Richtig ist, dass die Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern angestiegen ist.
Aber die deutsche Antwort darauf, die Lager – der abschreckenden Wirkung halber – nicht der Zahl der darin Untergebrachten anzupassen, sondern sie regelrecht verkommen zu lassen, unterschreitet das zivilisatorische Mindestniveau an Solidarität. Jeder Landkreis und jedes Bundesland agiert bei innerdeutschen Unfällen, Notlagen und Katastrophen professioneller und effizienter als die schlampige deutsche Flüchtlings- und Asylpolitik. Diese kennt nur einen doppelten Imperativ: Menschen möglichst bald wieder abschieben! Oder besser: gar nicht erst hereinlassen!
Um Letzteres zu ermöglichen, lockerte die Bundesregierung sogar das geltende Waffenausfuhrverbot im Schweinsgalopp. Statt Menschen in Not aus dem Nordirak und Syrien großzügig zu helfen und diejenigen von ihnen, die nach Deutschland möchten, aufzunehmen, liefern „wir“ jetzt Waffen ins Bürgerkriegs- und Notstandsgebiet. Dass ist etwa so rational und human, wie Menschen, die in Wüstenregionen von Hunger und Durst bedroht sind, mit Skistöcken und Schwimmwesten auszustatten.
Nur unter dem Druck der Opposition von Grünen und Linken ließ sich die Bundesregierung darauf ein, das Parlament zu einer Sondersitzung zurückzurufen, um über die Aufhebung des Waffenausfuhrverbots in Spannungsgebiete zu beraten. Formaljuristisch entscheidet zwar die Bundesregierung allein über die Waffenausfuhr, aber es gleicht einer Selbstdemontage des Parlaments, dass es sich dazu hergab, bei der Farce als Statist mitzuwirken – mit einem für die Entscheidung ganz bedeutungslosen Entschließungsantrag. Das oberste Vertretungsorgan des Souveräns banalisierte sich selbst zur dekorativen Kulisse im Polit-Theater.
Willige Selbstdemontage
Die verbreitete These, die wirtschaftlichen und politischen Eliten betrieben im Schulterschluss mit dem verkommenen Mainstream des medialen Betriebs den Umbau der Demokratie zu einer Postdemokratie, mag für das Berlusconi-Italien oder das Sarkozy-Frankreich eine gewisse Plausibilität beanspruchen. Hierzulande deutet es mehr auf eine Selbstdemontage der Parteiendemokratie hin. Eine überwältigende Mehrheit des Bundestags wirkte willig mit bei seiner Selbstabdankung und räumte dem Koalitionsfrieden und dem Koalitionsvertrag mehr Bedeutung ein als der demokratischen Legitimation, der parlamentarischen Verantwortung und dem Grundgesetz zusammen.
Bei den jüngsten Landtagswahlen in Sachsen verabschiedete sich über die Hälfte des Souveräns in die Bedeutungslosigkeit und ging gar nicht erst zur Wahl. Jeder Zehnte der noch Wählenden entschied sich für die nationalistisch und wohlstandschauvinistisch orientierte „Alternative für Deutschland“.
Auf Bundes- wie auf Landesebene wird die Entmachtung und Delegitimierung nicht „postdemokratisch“ von oben und von außen auferlegt, sondern freiwillig vollzogen. Demokratie und Verfassung werden dabei nicht kassiert, aber entkernt oder verdünnt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste