Kommentar Post-Oslo-Nationalismus: Lena - antideutsch gesehen
Ein vergnügliches Lehrstück in antideutscher Kritik am Beispiel Lena Meyer-Landrut. Gibt es etwa einen Formwandel des deutschen Nationalismus?
W äre ich - was ich Gott sei Dank nicht bin - Mitglied der bisweilen durchaus scharfsinnigen Sekte der Antideutschen, so müsste ich mir nach dem European Song Contest Gedanken machen. Als Antideutscher wäre ich nämlich in meinen Vorbereitungen zur Fußball-WM aufgestört; eingestellt darauf, beim public viewing Fülle und Form der deutschen Nationalfarben zu zählen und kritisch einzuordnen, müsste ich nicht nur eine deutsche Contest-Siegerin zur Kenntnis nehmen, sondern auch, dass in Hamburg und Hannover Orgien des Nationalismus gefeiert wurden.
Gewohnt, es nicht bei oberflächlicher Analyse zu belassen, käme es jetzt darauf an, sich zunächst des deutschen Beitrags analytisch zu versichern. Gegenstand der theoretischen Leidenschaft der Antideutschen sind ja Kontinuitäten und Brüche, Identität und Wandel im deutschen Nationalismus sowie eine wichtige Modifikation der marxschen Kapitalanalyse: die Einfügung einer Kategorie, die deutschen Vernichtungswillen und Antisemitismus auf der Abstraktionsebene der Kapitalanalyse berücksichtigt.
Doch zurück nach Oslo und Hannover - was bedeutet es, dass eine deutsche Abiturientin, die nach der Wiedervereinigung geboren wurde und (merke!) die Enkelin eines ehemaligen deutschen Botschafters in Moskau ist, den Wettbewerb gewonnen hat? Gewiss: Ihr Sieg könnte weder den NPD-nahen Burschenschaften noch ethnopluralistischen Antimperialisten schmecken, denn: Oberflächlich wirkt Lena Meyer-Landrut doch eher "undeutsch".
Micha Brumlik ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Dunkelhaarig und keineswegs im Trachtenkleid mit blondem Dutt sang sie ihr Liedchen nicht etwa - wie die portugiesischen oder israelischen Bewerber - in eigener Landessprache, sondern auf Englisch, der nationalen Wurzel entfremdet, sie geradezu verleugnend. Zudem dürfte es in solchen Augen kein Zufall sein, dass das Liedchen "Satellite" heißt - überdeutlicher Tribut an die globale Herrschaft des amerikanischen Kapitals. Freilich lässt sich ein überzeugungs- und theoriefester Antideutscher von derlei Oberflächenphänomenen nicht blenden. Da Antiamerikanismus ein Leitsymptom offenen Nationalismus ist, war es nur zu geschickt, sich des Englischen zu bedienen - oberflächliche Tarnung einer ansonsten nur schwer zu verhehlenden Hegemonialstrategie. Kulturwissenschaftlich inspiriert und damit wissend, dass die populäre Kultur Grundtendenzen einer Gesellschaft genauer zum Ausdruck bringt als jeder Leitartikel, eröffnen sich weitere Analysemöglichkeiten. Dann aber fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Ebenso wie - das hat sogar Jürgen Habermas festgestellt - die deutsche politische Klasse unter Führung von Angela Merkel im Windschatten eines "erschlafften" Joschka Fischer Europa beinahe vor die Wand gefahren hat, fuhr nun Lena Meyer-Landrut den symbolischen Surplus dieser Strategie ein.
Festzustellen wäre also ein Formwandel des deutschen Nationalismus: Vom monokelbewehrten, schnarrenden und von Mensuren gezeichneten "General Dr. Ritter von Staat" zur Hosenanzüge tragenden, betont unscharfen Angela Merkel und ihrem symbolpolitischen Pendant, dem unverbildeten Mädchen aus Hannover. Denn was hat es wohl zu bedeuten, dass Lena bei ihrer Ankunft in Hannover, einen schwarz-rot-goldenen Kranz im Haar, mit ihrem Komponisten Stefan Raab auf offener Bühne "Ich liebe deutsche Land" sang? War das nicht zugleich eine Verhohnepipelung mediterraner Immigranten wie der Versuch, sie in die Volksgemeinschaft zu inkludieren?
Dass die Deutschen Lena ins Rennen schickten, wäre damit erklärt, indes: Warum haben so viele europäische Nachbarvölker dieser durchsichtigen Strategie ihren Tribut gezollt? Zudem und vor allem: Was bedeutet es genau, dass der israelische Beitrag nicht besonders gut, also mittig abschnitt? Ist das ein Beleg von europaweitem Antisemitismus? Oder umgekehrt: War der israelische Beitrag gar ein verkappter Ausdruck jüdischen, antizionistischen Selbsthasses und eben deshalb vergleichsweise erfolgreich? Immerhin sang Harel Skaat, übersetzt man seinen Text ins Deutsche, auch das: "und wieder erhob sich Furcht, das Ende an meinem Fenster". Der Refrain des israelischen Beitrages "Milim" (Worte) lautete entsprechend: "Gott, Gott, Worte, du hinterließest nur Worte"; war das am Ende ein abgründiger Abgesang auf das zionistische Projekt? Schließlich drängen sich Fein-, nein Feinstanalysen auf: Welches Land hat jeweils im Vergleich zu welchen anderen Ländern den israelischen Beitrag auf welche Position gesetzt? Insbesondere: Wie haben die deutschen Voter den israelischen Beitrag bewertet?
Auf jeden Fall: Verglichen mit den eher schlichten Analysen zur Fußballweltmeisterschaft tut sich hier ein anspruchsvolles Untersuchungsfeld auf, an dem sich die theoretische Kraft des antideutschen Approachs wird erweisen müssen. Viel Arbeit! Gut, dass ich - wie gesagt - kein Anhänger dieser Richtung bin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“