piwik no script img

Kommentar Paragraf 175Wir müssen über Schuld reden

Jan Feddersen
Kommentar von Jan Feddersen

Heiko Maas’ Initiative ist sehr löblich, aber sie wird zu rasch umgesetzt. Die gesellschaftliche Debatte um den Paragrafen 175 wird vermieden.

Im Mai hatte der Justizminister Entschädigungen für homosexuelle Opfer des Paragrafen 175 versprochen. Im Oktober will Heiko Maas einen Entwurf vorlegen Foto: dpa

D ass Justizminister Heiko Maaß ein Gesetz zur Rehabilitierung der schwulen Opfer des Paragrafen 175 angekündigt, überrascht nicht. Eher schon, dass mit dem Deutschen Juristentag das wichtigste deutsche Forum juristischer Expert*innen damit einverstanden ist. Man möchte sagen: Wie erstaunlich! Noch vor 14 Jahren erklärten die damals noch regierungsbeteiligten Grünen, dass es rechtssystematisch nicht möglich sei, Rechtsprechungen aufzuheben, die in einem demokratischen Rechtsstaat getroffen wurden.

Inzwischen ist die Debatte weitergekommen: Wer als schwuler Mann in den ersten 20 bundesdeutschen Jahren nach dem weiterhin gültigen Paragrafen 175 der Nationalsozialisten verurteilt wurde, musste dies wider die damals schon geltenden Menschenrechte erleiden. Dieser Punkt muss betont werden, weil die politische Wiedergutmachungsgeste nicht einfach als ein homofreundlicher Akt betrachtet werden kann. Es geht hier darum, dass in voller Absicht eine höllische Strafbestimmung nationalsozialistischer Herkunft weiterwirken konnte.

Nichts ruinierte bürgerliches Leben so gründlich wie Gerüchte über einen, der „vom anderen Ufer“ sein könnte und der jede Satisfaktionsfähigkeit eingebüßt hat. Knast, schuldhafte Scheidungen, Jobverlust, Einträge in Strafregister – Entwürdigungen sondergleichen.

Insofern ist Heiko Maaß' Initiative sehr löblich, aber sie wird zu rasch umgesetzt: Am Ende wird es ein Gesetz und eine gewisse Summe Geld geben, um die sich dann lobbyistisch gut aufgestellte queere Bürgerrechtsorganisationen zanken, um die entsprechende wissenschaftliche Aufarbeitung der Nazigeschichte ins Werk zu setzen. Aber viel zu schnell wird eine gesellschaftliche Debatte vermieden, die sich an alle richtet, die die Strafkultur gegen männliche Homosexuelle gut fanden und sie aufrechterhalten haben. All jene haben sich schuldig gemacht. Es sind Nachnazitäter*innen, nichts weiter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!
Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Richtig, es wäre über Schuld zu sprechen. Dass das nicht geschehen wird, liegt daran, dass unsere Gesellschaft dabei keineswegs nur über unangenehme Vorfälle in der Vergangenheit diskutieren müsste, sondern unweigerlich auch konstatieren müsste, bis heute nicht einmal die volle rechtliche Gleichstellung hinbekommen zu haben, von echter gesellschaftlicher Akzeptanz ganz zu schweigen.

    Die Diskussion über die Rehabilitierung der nach §175 Verurteilten läuft, wie Feddersen selbst schreibt, schon seit etlichen Jahren. Maas hat Ankündigung an Ankündigung gereiht, aber bisher eher verzögert als vorangetrieben. Die Verweigerung der Schulddiskussion angesichts dieser Situation auf eine angeblich "zu schnelle" Umsetzung zu schieben, während die meisten Betroffenen derweil bereits verstorben sind, ist falsch, um nicht zu sagen zynisch.

  • "All jene haben sich schuldig gemacht. Es sind Nachnazitäter*innen, nichts weiter."

    Klar, alle sind schuldig. Aber nicht nur an den 175er Opfern. Nazi-Opfer - z.B. in Griechenland - ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer, deutsche Moslems die unter Rassismus leiden...

     

    Hier eine Gruppe herauszugreifen und nach mehr als 20 Jahren zu rehabilitieren und zu entschädigen halte ich nicht für angebracht. Ist alles lange her warum muss man die Betroffenen an das begangene Unrecht erinnern? Die Vorstrafen sind doch längst getilgt. Sie können sich als "nicht vorbestraft" bezeichnen.

  • Westdeutschland hat den §175 wirklich sehr spät abgeschafft und das ist eine Schande. Der §175 ist allerdings keine Schöpfung der Nazis, sondern ein Produkt der Jahrtausende währenden Verfolgung von Homosexuellen durch die Kulturen, die von den 3 "Buchreligionen" geprägt sind.

     

    Es ist also völlig unsinnig die letzten "Täter" zu bestrafen, nur weil sie die Kurve so spät bekommen haben. Wichtig ist, dass die Verfolgung beendet wurde und die noch lebenden Opfer zügig entschädigt werden. Möglichst noch vor ihrem Tod. Ein weitere gesellschaftliche Debatte ist dabei überflüssig. Das Thema Homosexualität nimmt in der Gesellschaft so und so schon einen Raum ein, der weit über dem prozentualen Anteil an der Bevölkerung liegt. Allerdings ist es natürlich typisch männlich, sich immer ins Rampenlicht zu drängen.

  • Bei allen Verständnis für demokratische, rechtsstaatliche Diskussionen, jetzt nachdem man viele Jahrzehnte lang Zeit hatte erneut eine endlose Debatte über den §175 anzufachen halte ich gelinde gesagt als einen schlechten Scherz. Ich meine, wir leben im Jahr 2016. Sorry, aber da sollten solche Themen eigentlich schon seit Jahrzehnten abgehakt sein.

    Und wir reden hier auch nicht einfach nur um irgendwelche verurteilten Straftäter. Einer ganzen Generation von Homosexuellen wurde das Leben gestohlen, sie wurden verunglimpft, beleidigt. Die eigentliche Bestraftung ging ja weit über dem eigentlichen gesetzlichen Strafmaß hinaus. Nein, über ein derartiges Unrecht will ich nicht zum hunderttausendsten Mal diskutieren, womöglich noch mit Leuten von AfD & Co. ob und in welchen Maße man den §175 nicht doch bestehen oder gar wieder einführen könnte.

    Für mich ist es allein ein Skandal ersten Ranges das es überhaupt so lange gedauert hat bis man sich mit dem Thema beschäftigt.

  • Zu rasch umgesetzt? Bei den Opfern des §175 gibt es genügend, die inzwischen schon wegsterben, bevor sie rehabilitiert werden - gleiches System wie bei Zwangsarbeitern oder Überlebenden von Wehrmachts- oder SS-Massakern. Ich finde, eine gewisse Zügigkeit in der Umsetzung wäre schon angemessen. Beim Vernichten von Akten ging's ja auch.

  • Auch wenn § 175 StGB von den Nazis verschärft worden ist, so war die Strafbarkeit von Homosexualität durchaus kein Ausfluss der Naziideologie und auch kein übersehenes Überbleibsel derselben. Genauso ist z.B. die Todesstrafe, die die Nazis in grossem Umfang keine Schöpfung und auch kein Ausfluss der Naziideologie sondern eines der grausamen Instrumente, der sich die Nazis wie viele andere auch bedient haben.

    In Deutschland gab es einen breiten Konsens von Bundesverfassungsgericht, Parteien und Kirchen, die die Strafbarkeit von Homosexualität für richtig - oder zumindest nicht für verkehrt hielten. Es waren also nicht überwiegend Altnazis, die sich gegen eine Aufhebung des § 175 StGB gerichtet haben.

    Hier haben also die allermeisten Politiker_innen und Bundesverfassungsrichter_innen des Nachkriegsdeutschland Schuld auf sich geladen. Leute, die ansonsten bei uns hoch geehrt werden.

    Im "Unrechtstaat" DDR dagegen wurde die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen deutlich früher abgeschafft.

    Es wird viele weitere Dinge geben, die uns künftige Generationen vorhalten werden - Dinge die den meisten unter uns aber heute richtig vorkommen. Das hat wenig mit Nationalsozialismus aber viel mit einem Wertewandel zu tun. Wir haben eben keinen unverrückbaren Wertekompass in uns, der Menschenrechte automatisch schützt. Wir sind vielmehr Geschöpfe unserer Zeit und übernehmen die allermeisten Dinge und Wertungen relativ unreflektiert. Dies gilt gerade auch für Leute, deren moralische Standards wir ansonsten sehr hoch schätzen.

  • Der Hinweis auf die notwendige gesellschaftliche Debatte ist wichtig aber meine Befürchtung geht in dieselbe Richtung. Die queere Community wird sich damit (selbst-)beschäftigen, ein paar Forschungsmittel werden verteilt.

     

    Volker Beck wird bei der Gesetzesverabschiedung im Bundestag um 23.30 Uhr am Ende eines langen Sitzungstages eine faktenreiche, mit Verve vorgetragene Rede vor 29 MdBs halten. Ein CDUler wird in bräsigen Worten Bedauern äußern, aber sofort im selbstgerechten Ton auf die Wiederaufbauanstrengungen der „Normal“bürger hinweisen, die doch so erschöpft waren vom Wirtschaftswunder in Adenauers ver-globke-ter bleierner 50er -Jahre Idylle. Johannes Kahrs (SPD) wird lauwarm die Öffnung der Ehe fordern, um am nächsten Tag wieder hündisch-brave Koalitionsdisziplin zu praktizieren. Die Linke fällt bei queeren Themen meist ganz aus, weil sich deren LGBT-Vertreter nicht wieder der fiesen Pinkwashing-Vorwurfsdebatte in den eigenen Reihen aussetzen wollen.

     

    Bleibt die letzte Hoffnung unverdrossener Grün-wählender Schwuler & Lesben, dass bei den drohenden schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen im Oktober 2017 die Abschaffung des Eheverbots für unsereins zumindest zu einem von mehreren Knackpunkten für den grünen Eintritt in die Koalition sein wird. Geht nur, wenn Beck noch mal antritt. Ansonsten werden die Grünen sowieso 2021 dort enden, wo die FDP jetzt schon ist. Und das dann zu Recht.

  • Was soll man denn noch alles debattieren? 175 ist abgeschafft, Homosexualität längst gesellschaftlich akzeptiert.