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Kommentar NS-LagerDie Faszination der großen Zahl

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die Geschichte des Holocaust muss nicht neu geschrieben werden. Die Forscher des Washington Memorial haben nur Bekanntes neu verpackt.

W enn wir einigen britischen und deutschen Medien glauben, hat die historische Wissenschaft Unerhörtes herausgefunden. Der Independent fragt, ob „die Geschichte des Holocaust neu geschrieben werden muss“. Daily Mail meldet, dass nun erst das „wahre Ausmaß des Holocaust aufgedeckt“ sei. Zeit online konstatiert: „Der Holocaust hatte offenbar weit größere Ausmaße, als bisher angenommen.“

Hatte er? Ist das Ausmaß des NS-Terrors aus unbegreiflichen Gründen jahrzehntelang zu niedrig veranschlagt worden? Keineswegs. Die Zahl von 42.500 Lagern in der NS-Zeit, die US-Historiker herausgearbeitet haben, klingt spektakulär, aber das ist sie nicht.

Sie sagt so gut wie nichts über den Holocaust und ist eine fragwürdige Zusammenfassung unterschiedlichster Lager unter eine Kategorie – Nazilager.

Medien und Wissenschaft folgen unterschiedlichen, manchmal konträren Logiken. Wissenschaft muss exakt arbeiten und präzise Unterscheidungen treffen. Medien funktionieren manchmal nach der Devise „mehr, neu, größer“.

Bild: taz
Stefan Reinecke

ist Parlamentskorrespondent der taz.

In dieses Schema passt die Botschaft „42.500 Nazilager“. Wir haben es mit einem Kurzschluss zwischen wissenschaftlichem Vermarktungsinteresse und medialer Nachfrage nach schlagzeilenfähigem Material zu tun.

Das erweist sich beim Thema NS-Zeit als wenig brauchbare Methode. Denn die Forscher des Washington Memorial haben weitgehend Bekanntes neu verpackt und „Sensation“ draufgeschrieben. Es ist aber nicht sinnvoll, Vernichtungslager mit Kriegs- und Zwangsarbeiterlagern der schrecklichen und erträglicheren Art in einer Topf zu werfen.

Dieses Verfahren dient nicht der historischen Aufklärung. Es folgt den Direktiven der Erregungsdramaturgie.

Solche Spekulationen mit der Faszination der großen Zahl sind ein nachlässiger Umgang mit der Ressource Glaubwürdigkeit, über die auch die Geschichtswissenschaft nicht in unendlichem Maße verfügt.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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5 Kommentare

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  • T
    tommy

    @Wetterleuchten

     

    "Deshalb müssen wir allen Relativierern der Nazi-Gräuel entgegen halten, auch die Franzosen waren diesem Druck und Terror der Nazis ausgesetzt. Allein sie haben eine Widerstandsbewegung aufgebaut und sich gewehrt! "

     

    "Die" Franzosen haben keine Widerstandsbewegung aufgebaut - aktiv im Widerstand war nur eine Minderheit. Und noch 1944 wurde Petain von jubelnden Menschenmassen gefeiert. Korrekt wäre eher zu die Aussage, dass die deutsche Besatzung und das Vichy-Regime Frankreich gespalten und 1944/45 zu Konflikten mit bürgerkriegsähnlichen Elementen geführt hat.

    Aber was solls, solange man die olle These vom deutschen Sonderweg aufrechterhalten will, ist das ja alles egal - dabei mag sie in Teilen durchaus zutreffen. Nur schade, dass ihre Vertreter regelmäßig mangelnde Kenntnis über die Vergleichsgegenstände zu erkennen geben.

  • W
    wetterleuchten

    Lieber Tim Fischerkamp,

     

    Ihrer Argumentation kann ich weitgehend folgen, bis auf die Passagen zur Antibabypille und ihren Spätfolgen für die deutsche Bevölkerung. Aber vielleicht habe ich dazu noch keine passende Studie gelesen.

    Ergänzen möchte ich die Betrachtungen von Stefan Reinecke noch um die Blockwart-Variante in den Häusern und Wohnblocks der Deutschen. Schon hier haben die Nazis Druck und Terror aufgebaut, in dem sie halblagerähnliche Strukturen aufgebaut haben. Von Freiheit in Familie und Wohnblocks konnte keine Rede sein. Doch - auch hier kam es zu keinem Aufbegehren der Deutschen. Ich glaube sogar, dass hier beim passiven Erdulden der Verhältnisse das Mitläufertum seinen Anfang nahm.

    Deshalb müssen wir allen Relativierern der Nazi-Gräuel entgegen halten, auch die Franzosen waren diesem Druck und Terror der Nazis ausgesetzt. Allein sie haben eine Widerstandsbewegung aufgebaut und sich gewehrt! Es bleibt also für Entschuldigung der Deutschen kein Raum: Der Übergang vom Mitläufer zum Täter war wohl fließend.

    Wenn man sich diesen Zugang zu den Geschehnissen von damals offen hält, spielen die Zahlen nur eine untergeordnete Rolle.

    Trotzdem, danke Stefan Reinecke, danke Taz!

  • R
    Rincewind.ii

    Bravo Herr Fischerkamp,

    endlich eine Erklärung für das Aussterben der Deutschen! und das an so unerwarteter Stelle...

    Respekt!

  • TF
    Tim Fischerkamp

    Die heutige Bezeichnung der damals "Polizeihaftlager" oder "Arbeitslager" oder "Außenstelle von..." genannten Lager als "KZ"s hat es erst möglich gemacht, die Zahl der KZs, also der Konzentrationslager (jetzt incl. ihrer Außenstellen) wirklich vollständig aufzuzählen. Es handelt sich hier also nicht wie im obigen Kommentar um "Faszination der großen Zahl", was man als antisemitisch oder als eine Bezeichnung die der Würde der Opfer nicht gerecht wird, ansehen darf, sondern um eine nun vollständige Sicht auf die Topologie der deutschen Lagerwelt. Die Krise der Moderne wurde in der "Spur der Anderen" jetzt wieder in ihrer erschreckenden Form sichtbar gemacht, nämlich als eine Welt, die bis in die Fabriken von Kleinstädten oder zu Bauprojekten irgendwo auf dem Lande reicht. Die Ausdehnung der Lagersystems, seine Dehnung bis vor die Haustür sehr vieler, seine banale Logik, die Abwesennheit der "Front"-Männer mit Menschen als Sklaven zu füllen, die jetzt sogar die Zahl der Deutschen die bis 1948 im Weltkrieg und danach starben, es waren über 6,5 Millionen, auch in der Zahl übertreffen, vielleicht sind insgesamt mehr als 7 Millionen Menschen im Lagersystem der Deutschen und durch das Wüten der Einsatzgruppen umgekommen. Wie Christen Nichtchristen solches Leid zufügen konnten, die sich ja zum Teil nicht einmal mehr für Christen halten wollten, sondern höchstens noch für "deutsche Christen", ist nicht zu verstehen. Das spätere sich auflösen des Christentums, der Verzicht sovieler Christen auf Familie, der das Nichtgeborenwerden sovieler Kinder durch die Antibabypille als "Selbststerilisation" im gebährfähigen Alter und durch "Emmanzipation" ist vielleicht durch das Grauen zu erklären, daß soviele unschuldige Menschen in Lagern erlitten. Nie ist die deutsche Bevölkerung so stark geschrumpft, wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die Pille verloren die Deutschen mehr künftige Bürger als an ihrer "Ostfront" Soldaten durch Hunger, Kälte und Kugeln. So macht die neue Erkenntnis über die Lager sichtbar, wohin das Grauenssystem geführt hat. Das den Deutschen und ihren Schlafzimmern noch näher war, als bisher bekannt und deshalb diese Wirkung bis untere ihre Bettdecken hatte in der Zeit nach dem Weltkrieg.

  • J
    Juna

    Danke