Kommentar Missbrauchs-Urteil: Täter wird zum Opfer gemacht
Überall bändeln Trainer mit Teenagern an. Sie können das, weil in fast allen Sportvereinen jedes Bewusstsein dafür fehlt, wie sexualisierte Gewalt funktioniert.
H aarsträubend ist die Begründung für den Freispruch des Kieler Schwimmtrainers, der wegen sexuellen Missbrauchs an einer ihm anvertrauten 16-jährigen Sportlerin angeklagt war. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um eine „selbstbestimmte Liebesbeziehung“ gehandelt habe, so das Gericht. Schließlich habe die junge Frau ihrer Therapeutin nicht gesagt, dass sie sich missbraucht gefühlt habe, als der Mann Sexualpraktiken an ihr ausprobierte.
Völlig fremd sind diesem Amtsgericht offenbar die Erkenntnisse darüber, dass Opfer sexuellen Missbrauchs sich manchmal erst Jahrzehnte später eingestehen, was ihnen angetan wurde. Aus Scham, und weil manche glauben, selbst verantwortlich für die Taten zu sein, sie vielleicht sogar provoziert und genossen zu haben.
Hätte sich der 41-Jährige eine reife, sexuell erfahrene Partnerin gesucht, dann hätte das Gericht tatsächlich nur bewerten müssen, ob die Frau gegen ihren Willen Geschlechtsverkehr in allen Varianten hatte. So aber geht es um eine 16-Jährige, die viel übers Schwimmen wusste, aber zu wenig übers Zwischenmenschliche.
Ihr Pech: Sie war ein paar Monate zu alt, um die Sache eindeutig zu machen. Wer sich an 15-Jährige heranmacht, wird verurteilt. Wer bis zum 16. Geburtstag wartet, kann davon kommen. Allerdings macht das Gesetz eine Ausnahme bei Abhängigkeitsverhältnissen. Warum das Gericht in diesem Fall nicht anerkennt, dass der Trainer seine Macht über eine ihm seit vier Jahren anvertraute Sportlerin ausnutzte, bleibt rätselhaft.
Hängen bleiben wird wieder der Eindruck, hier sei einer fälschlich vor Gericht gelandet, nur weil seine Partnerin leider sehr viel jünger war als er. Nach dem Motto: Was konnte er dafür, dass er eine kleine Lolita im Becken hatte? „Große Erleichterung für früheren Olympia- Schwimmtrainer“, lautete gestern der erste Satz einer Agenturmeldung. Damit wird der Täter zum Opfer gemacht.
Beileibe nicht zum ersten Mal. Überall bändeln Trainer mit Teenagern an. Sie können das, weil in fast allen Sportvereinen jedes Bewusstsein dafür fehlt, wie sexualisierte Gewalt funktioniert. Auch mit 16 können viele Jugendliche nicht unterscheiden, ob der von ihnen angehimmelte Ältere ihnen um ihrer selbst willen Aufmerksamkeit schenkt oder um an sein Ziel zu kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen