Kommentar „Memorial“-Urteil: Putin kann auch anders
Die Justiz in Russland ist nicht unabhängig, Urteile werden direkt aus dem Kreml diktiert. Umso interessanter ist nun der Entscheid über die NGO.
D ie Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, den Dachverband der Menschenrechtsorganisation Memorial nicht aufzulösen und die Klage des Justizministeriums abzuweisen, ist endlich einmal eine gute Nachricht aus Russland. Da die Justiz nicht unabhängig ist und Urteile aus dem Kreml diktiert werden, lautet die Botschaft: Präsident Wladimir Putin kann auch anders.
Über die Beweggründe für diesen plötzlichen Sinneswandel im Falle einer der bedeutendsten russischen Menschenrechtsorganisationen, die auch zahlreiche internationale Unterstützer hat, kann man nur Vermutungen anstellen. Offensichtlich kann Putin keine weitere Baustelle gebrauchen – zumindest derzeit nicht. Aus gutem Grund. Die Beziehungen zum Westen sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Eine Aufhebung der EU-Sanktionen wegen der fortdauernden Kämpfe in der Ukraine, für die Russland nach wie vor jegliche Verantwortung zurückweist, ist nicht in Sicht.
Auch der Europarat macht keine Anstalten, den gegen die russischen Vertreter in der Parlamentarischen Versammlung verhängten Entzug des Stimmrechts rückgängig zu machen. Zudem ist nicht auszuschließen, dass sich die russische Regierung wegen der desolaten Wirtschaftslage alsbald mit Protesten der Bevölkerung konfrontiert sehen könnte.
Doch wodurch auch immer das Urteil gegen Memorial motiviert gewesen sein mag: Tatsache ist, dass der Druck auf die NGO, die sich als ausländischer Agent registrieren lassen musste, stetig wächst. Das jüngste Verfahren dürfte nicht das letzte seiner Art gewesen sein. Dabei ist die Aufarbeitung des Stalinismus, der sich Memorial verschrieben hat, wichtiger denn je. Mehr als 50 Prozent der Russen sehen den Diktator heute wieder in einem positiven Licht. Zumindest das hat Putin auf der Habenseite.
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