Kommentar Kachelmann-Urteil: Alle haben verloren
In Deutschland riskieren Opfer von sexuellen Übergriffen, vor Gericht noch einmal Opfer zu werden. Durch Prozessführung, mediale Übergriffe und gängige Rechtsprechung.
E nde da, alles schlecht. Das ist eine Perspektive auf den Freispruch im Kachelmann-Prozess. Weil die Richter von den Indizien nicht eindeutig überzeugt waren, wurde er vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Ein fatales Zeichen, kritisieren viele Opferverbände. Dieser Prozess habe einmal mehr gezeigt, dass Frauen nur abgestraft werden, wenn sie in einer Beziehung sexuelle Gewalterfahrungen erleiden müssen. Weil es eben so schwierig ist, den Täter mit Indizien eindeutig zu überführen.
Auf der anderen Seite nun Kachelmann selbst. Sieger sehen anders aus. Denn wie immer, wenn es um Beschuldigungen geht, sexuelle Gewalt ausgeübt zu haben, bleibt auch an dem berühmten Wettermann etwas hängen. Ein Zurück, ein "… und nun zum Wetter" wird es für ihn wohl kaum geben.
Genauso wenig wie für seine Exfreundin. Sie wird sich nie mehr aus der gewaltvollen, zum Teil selbst inszenierten Medienumarmung befreien können. Auf lange Sicht wird man sie damit in Verbindung bringen, zumindest teilweise gelogen zu haben. Die Karriere der Moderatorin dürfte endgültig zerstört sein. Und wenn ihre Anklage stimmt, gehen Schmerz und Trauma noch viel tiefer und finden keinen Trost in einem aus ihrer Sicht ungerechten Urteil.
INES POHL ist Chefredakteurin der taz.
Das Ganze also ein einziges Desaster, angeführt und ausgeschlachtet von den bösen Medien, bei dem es am Ende nur Opfer gibt? Egal auf wessen Seite man sich schlagen möchte: Diese Schlussfolgerung wäre in der Tat fatal.
Ja, in Deutschland gehen Opfer von sexuellen Übergriffen ein verdammtes Risiko ein, wenn sie vor Gericht ziehen, noch einmal Opfer zu werden: durch die Art der Prozessführung, durch mediale Übergriffe, letztlich durch die gängige Rechtsprechung. Wenn selbst der ehemalige Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft, Karge, in einer Talkshow sagt, dass er seiner eigenen Tochter davon abraten würde, vor Gericht zu ziehen, wenn sie vergewaltigt wurde, muss das unsere Gesellschaft erschüttern.
In diese Richtung müssen wir weiter arbeiten. Wir brauchen eine Reform unseres Rechtsapparats, der mit speziell geschulten Fachkräften die Prozessordnungen so gestaltet, dass die Opfer vor dem Kadi nicht noch einmal und vielleicht immer wieder den Horror ihrer Gewalterfahrungen durchleiden müssen.
Und wir brauchen einen neuen Diskurs innerhalb der Medienschaffenden. Keine Auflage, keine individuellen Aufmerksamkeitsstörungen rechtfertigen diesen Umgang. Auch für diese Auseinandersetzung muss der Kachelmann-Prozess Anstoß sein. Die Rechtsprechung gehört zunächst in den Gerichtssaal. Und sie darf nicht schon im laufenden Verfahren in den Gossen der Journaille verhandelt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?