Kommentar Honorarreform-Proteste: Ärzte gegen Ärzte
Die Honorarreform ist für manche Praxen eine Katastrophe, für andere ein Segen. Das ist teils sinnvoll - spaltet aber die Ärzteschaft und bringt die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Not.
Überschaubar sieht die Frontlinie dieses Konflikts auf den ersten Blick aus: Auf der einen Seite stehen Haus- und Fachärzte. Sie fordern über eine Milliarde Euro mehr, obwohl sie erst vor wenigen Monaten gewaltige Honorarzuwächse erzwungen haben. Ihnen trotzen die Krankenkassen und eine Gesundheitsministerin, die sich als Anwälte der Versicherten anpreisen. Sie wollen nicht noch mehr Geld herausrücken. Doch so einfach ist es bei diesem Streit nicht. In diesem Kampf stehen nicht nur Ärzte gegen Krankenkassen, sondern auch Ärzte gegen Ärzte.
Erstaunlich schweigsam sind derzeit die Gewinner der jüngsten Reformen. Das sind vor allem die niedergelassenen Mediziner in Ostdeutschland. Sie haben im Schnitt weniger Privatpatienten und mehr chronisch Kranke. Letzteres war bis vor kurzem ein Nachteil, heute ist es ein Vorteil. Ein Hausarzt in Mecklenburg-Vorpommern mit vielen Kassenpatienten verdient jetzt mehr als bisher, ein Radiologe in München eventuell weniger. Dieses Ergebnis ist durchaus sinnvoll - kann es doch dazu beitragen, dass mehr gute Mediziner sich zutrauen, eine Hausarztpraxis zu führen. Die Einkommenskluft zwischen Fach- und Allgemeinärzten wollte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verkleinern, und das ist mit der Honorarreform gelungen. Weil niemand ernsthaft am Nutzen dieser Neuerung zweifelt, bekämpfen die verlierenden Ärzte die Reform auch nicht auf offener Bühne. Stattdessen richten sie das Feuer gegen Regierung und Kassen. Denn wenn es von dort mehr Geld gibt, sind Differenzen mit den Kollegen nicht nötig.
Doch der zentrale Konflikt müsste in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung stattfinden. Sie hat die Honorarreform vor Jahren zu ihrem Lieblingsprojekt gemacht - und die Gesundheitsministerin ließ sie gewähren. Nun fällt den Architekten des neuen Verteilungssystems ihre Entscheidung auf die Füße. Der Schaden für die Funktionäre kann gravierend werden. Sie müssen einen Weg finden, damit gut verdienende Fachärzte und mäßig kassierende Hausärzte die Kassenärztliche Vereinigung weiter als Interessenvertretung verstehen. Wie ihnen das gelingen kann, wissen die Funktionäre wohl zurzeit selbst nicht.
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