Kommentar Hochzeitsmassaker: Fatale ABM-Maßnahme
Aus der Gewaltspirale kommt die Türkei nur mit einer radikal veränderten Kurdenpolitik heraus.
D as Massaker in dem kleinen kurdischen Dorf Bilge ist ein Schock. Niemand in der Türkei hat mit einem solchen Gewaltausbruch gerechnet. Trotzdem ist er die fast schon zwangsläufige Konsequenz aus einer unheilvollen gesellschaftlichen Konstellation: einer archaischen Clangesellschaft und einem seit 25 Jahren andauernden Bürgerkrieg.
Jürgen Gottschlich ist taz-Korrespondent in Istanbul. Er ist einer der Mitbegründer dieser Zeitung, später war er Inlandsredakteur und in den Neunzigerjahren Chefredakteur. Er schreibt regelmäßig für die Debattenseite der taz.
Blutfehden zwischen einzelnen Familien gehören bis heute in vielen kurdischen Dörfern zum Alltag. Ein Mord wird gerächt, indem die betroffene Familie ein Mitglied aus der Familie des Mörders tötet.
Der Bürgerkrieg im kurdischen Südosten der Türkei fügt dem archaischen Ritual nun eine moderne Komponente bei. Früher wäre ein abgewiesener Bräutigam aus einer beleidigten Familie vielleicht mit einem Jagdgewehr während der Hochzeit aufgetaucht und hätte vielleicht auf den Bräutigam geschossen. Heute taucht ein militärisch organisiertes Killerkommando auf, bewaffnet mit Maschinenpistolen und Handgranaten und richtet in wenigen Minuten 44 Menschen hin.
Diese Killer haben vermutlich ihren Job in Trainingslagern der Armee gelernt, die sich seit Jahren der Angehörigen kurdischer Großclans bedient, um sie als Hilfstruppen im Kampf gegen die PKK-Guerilla einzusetzen. Schon lange fordern Vertreter türkischer Menschenrechtsorganisationen die Entwaffnung dieser sogenannten Dorfschützer. Denn die haben ihre Waffen am Montagabend nicht zum ersten Mal zweckentfremdet verwendet, nur waren ihre Schießereien bislang nicht so spektakulär.
Doch zum einen hat die Regierung Angst, die rund 70.000 Männer in die Arbeitslosigkeit fallenzulassen. Zum anderen flammt der Krieg mit der PKK immer wieder auf und legitimiert scheinbar das Dorfwächtersystem.
Aus dieser Gewaltspirale kommt die Türkei nur mit einer radikal veränderten Kurdenpolitik heraus. Bislang ist jeder halbherzige Versuch aus Ankara gescheitert. Seit die Regierung ihre Wahlschlappe im März gegen die kurdischen Nationalisten damit beantwortet, dass sie massenhaft Funktionäre der kurdischen Regionalpartei verhaften lässt, dreht sich die Gewaltspirale noch schneller und noch unheilvoller. Diese Beschleunigung ist zwar nicht der direkte Auslöser für das Attentat in Bilge, aber sie bildet den Hintergrund ebenso wie den Nährboden für diese Tragödie.
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