Massaker in der Südosttürkei: Tödliche Trauung
Im Südosten der Türkei stürmen Angreifer eine Verlobungsfeier und töten 44 Menschen. Täter und Opfer stammen aus demselben Dorf - und wurden vom Staat bewaffnet.
ISTANBUL taz | Abdullah Akan war schockiert, als er durch die Zimmertür schaute. Die Männer lagen alle auf dem Boden, hinter dem Vorbeter. Sie waren beim Gebet massakriert worden. "Als ich das Haus betrat, war alles voller Blut. In dem anderen Zimmer lagen die Frauen und Kinder. Ich habe in meinem Leben noch nie so etwas Grausames gesehen", erzählte Akan, ein Bewohner des Dorfes Bilge in der Provinz Mardin im kurdischen Südosten des Landes.
Historisch: Die Bewaffnung staatstreuer kurdischer Clans gegen Aufständische geht bis ins Osmanische Reich zurück: Die berühmt-berüchtigten kurdischen "Hamidiye-Einheiten" waren Anfang des 20. Jahrhunderts die Hauptverantwortlichen für die Massaker an den ostanatolischen Armeniern.
Heute: Tatsächlich gibt es im Südosten der Türkei insgesamt an die 70.000 Dorfschützen. Die Ex-Ministerpräsidentin Tansu Çiller hat das System ausgebaut. In den 2000er-Jahren bemühte man sich zeitweilig, aus innenpolitischen Gründen, um die Entwaffnung der Clans. Ministerpräsident Erdogan hat jedoch in den letzten Jahren laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen die Zahl der Dorfschützen wieder erhöht - als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der von Armut heimgesuchten Region. Dennoch gibt es eine Eskalation der Gewalt jenseits der Dorfschützen: Erst vor wenigen Tagen sprengten PKKler einen Militärwagen in die Luft und töteten zehn Wehrdienstleistende.
Am Montagabend feiern die Bewohner des 300-Seelen-Dorfes die Verlobung zwei junger Leute. Plötzlich wird das Haus von maskierten Männern mit automatischen Waffen gestürmt. Es ist Gebetszeit, die Gäste haben sich nach Geschlechtern getrennt in zwei Räumen versammelt. Sie knien wehrlos auf dem Boden. Bei dem Angriff werden insgesamt 44 Menschen getötet, davon 6 Kinder und 16 Frauen. Drei von ihnen sind schwanger. Unter den Getöteten ist ein dreijähriges Kind. Die Türkei, die Schauplatz so mancher Bluttat geworden ist, hat so etwas noch nicht erlebt.
Nur langsam lichtet sich der Nebel: Erst machen Journalisten darauf aufmerksam, dass die Männer des Dorfes komplett "Dorfschützer" sind. Sie sind von dem Staat gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK bewaffnet worden, viele waren gar nicht im Dorf, sondern bei den Soldaten in der Umgebung. Ist die Tat eine Strafaktion der PKK? Oder eine Provokation, um den zerbrechlichen ethnischen Frieden vollends zu beseitigen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Eine Blutfehde?
Aber bei Blutfehden werden höchstens ein paar Menschen, vielleicht eine einzelne Familie ermordet. Diese Tat, so lautet die allgemeine Wahrnehmung, gleicht eher einem Massaker in einem Land, das weit weg liegt, nur nicht in der Türkei.
Im Laufe des Tages wird bekannt, dass acht Männer gefasst worden sind, und zwar mit ihren Waffen. Sie tragen denselben Nachnamen wie viele ihrer Opfer. Eine merkwürdige Erleichterung setzt sich ein: Kein PKK-Angriff. Kein Grund zur Aufregung?
Innenminister Besir Atalay bestätigt am Dienstagnachmittag den kriminellen Hintergrund der Tat: Das Mädchen, dessen Verlobung gefeiert wurde, sollte eigentlich einen Verwandten aus demselben Dorf heiraten. Dieser Wunsch der Familie des Mannes wurde aber abgeschlagen. Aus Wut über ihre Ablehnung sollen dann die Männer zu den Waffen gegriffen haben. Dorfbewohner ergänzen laufenden Kameras: "Die Familie der Angreifer und die des Bräutigams sind seit 20 Jahren verfeindet." Nicht nur die Ablehnung, sondern gerade die Verlobung des Mädchens mit einem Mitglied der verhassten Familie habe den Stolz besonders gekränkt und die Familie zu dem Blutbad verleitet.
"Keine Bräuche und keine Sitten können als Entschuldigung für dieses Massaker herhalten", sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und zeigte sich besonders darüber erschüttert, dass die Opfer beim Gebet niedergeschossen wurden. Taten wie diese seien der schmerzvolle Preis, den das Land für das Fortbestehen solcher Sitten zahle. Erdogan rief "alle gesellschaftlichen Institutionen, Glaubensführer, Initiativen und Vereine" dazu auf, gegen die archaischen Sitten zu kämpfen".
Die Oppositionsabgeordnete Canan Aritman von der kemalistischen CHP forderte ein Einschreiten der Regierung. "So etwas gibt es nicht mal in den primitivsten Gesellschaften", sagte Aritman, die einem Untersuchungsausschuss zu sogenannten Ehrenmorden angehört.
Emine Ayna, Kovorsitzende der prokurdischen DTP und Abgeordnete der Provinz Mardin, machte den Staat verantwortlich: "Dass diese Dorfschützer die Waffen, mit denen sie der Staat ausgerüstet hat, sogar gegen ihre eigenen Verwandten richten, zeigt, wozu diese Kräfte fähig sind." Sie forderte von den Behörden Aufklärung darüber, ob es staatliche Waffen waren, mit denen das Massaker verübt wurde. "Wir zweifeln nicht daran, dass die Waffen dem Staat gehören", sagte sie und forderte eine Abschaffung der Dorfschützer-Milizen (siehe Kasten).
Für den Istanbuler Psychiater Nevzat Tarhan reicht diese Erklärung allerdings nicht aus. Er hat eine andere Erklärung für die unfassbare Tat: "Das zeigt, wie schlimm das Gefühl für Ehre in der Region Wurzeln geschlagen hat." Der Ehrbegriff würde eine Eigendynamik entwickeln, der man nicht habhaft werden kann. "Die Täter betrachten in solchen Situationen ihre Opfer nicht als Menschen, sondern als Feinde." Sie verfallen dem Wahn, dass sie sie töten müssen, bevor diese zurückschlagen." Dass das Massaker die bestehende Blutrache erst recht eskalieren lassen wird, ist das Einzige, was man am Tag danach mit Gewissheit sagen kann.
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