Kommentar Heiligendamm-Urteil: Demo-Hilfe aus Straßburg
Polizei und Gerichte werden es sich demnächst überlegen, ob sie einen politischen Slogan mit der Absicht gleichsetzen, Straftaten zu begehen.
D as Urteil des Europäischen Menschenrechtgerichtshofs zum G8-Gipfelprotest in Heiligendamm ist eine Blamage für die Sicherheits- und Justizbehörden, keine Frage. Man kann nicht einfach junge Leute tagelang wegsperren, weil sie Transparente mit interpretationswürdigen Demo-Sprüchen dabei haben.
Polizei und Gerichte werden es sich demnächst überlegen, ob sie einen politischen Slogan mit der Absicht gleichsetzen, Straftaten zu begehen.
Doch wirft das Urteil aus Straßburg auch ein neues Licht auf deutsche Protest-Gewohnheiten. Die Castor-Festspiele haben jüngst gezeigt, dass eingeübte Demonstrationsformen selbst dann noch unter Kontrolle sind, wenn sie angeblich eskalieren. Zwar kommt es im Wendland regelmäßig auch zu unschönen Konfrontationen von Aktivisten und Polizei.
ist Co-Leiterin des Inland-Ressorts der taz.
Doch wissen fast alle Demonstranten genau, wieviel Provokation noch so gerade geduldet wird. Grenzüberschreitungen sind sauber inszeniert, Ingewahrsamnahmen Teil des Spiels, juristische Folgen einkalkuliert.
Dass der Staat den Castor ins Lager schaffen und sein Gewaltmonopol durchsetzen muss, versteht dabei nahezu jeder. Es ist ja die notwendige Voraussetzung des beliebten Rituals.
Doch war der G8-Gipfel für die Behörden eine Überforderung: Während die Beamten beim Castor-Protest geradezu Zärtlichkeit an den Tag legen, wenn Mensch und Gleis getrennt werden müssen, kannte der Einsatz rings um Heiligendamm nur den rüden Durchgriff. Während sich im Wendland Demonstrantin und Polizistin müde, verfroren und beinahe solidarisch angucken, flog überm Strand der Tornado-Aufklärer.
Heiligendamm hat gezeigt, wie sehr die Meinungsfreiheit in Deutschland davon abhängt, dass die Behörden denken, sie kennen ihre Pappenheimer. Landet beim G8-Gipfel die Welt an der Ostseeküste, müssen zum - nachträglichen - Schutz des Demonstrationsrechts leider europäische Gerichte bemüht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?