Kommentar Gesichtserkennung: Ein Modellversuch für den Wahlkampf
Der Praxistest der Gesichtserkennungssoftware ist eine reine Wahlkampf-Show. Die Gesichtserkennung ist kein effizientes Fahndungsmittel.
E s klingt wie ein Märchen aus dem Polizeiparadies. Intelligente Videokameras zeichnen nicht nur auf, sondern erkennen auch Personen. Der gesuchte Mörder oder Terrorist käme also nicht weit, weil im öffentlichen Raum so viele Kameras sind, dass er bald doch mal eine übersieht und dann sofort verhaftet wird. Ob das in der Praxis funktioniert, will Innenminister Thomas de Maizière (CDU) jetzt in einem Modellversuch im Berliner Bahnhof Südkreuz testen. Schon am Dienstag soll es losgehen.
Es ist natürlich kein gutes Gegenargument, dass die Fahndung mit Gesichtserkennungssoftware ziemlich effizient klingt. Im demokratischen Staat ist es gut, wenn die Polizei bei der Fahndung nach Verbrechern effiziente Fahndungsmittel nutzen kann. Es bringt wenig, sich schaudernd auszumalen, wie eine faschistische Diktatur solche Methoden missbrauchen könnte.
Im Gegenteil. Eine effiziente demokratische Polizei reduziert die Gefahr, dass Populisten mit Law-and-Order-Parolen Mehrheiten für die Schaffung eines autoritären Staates erhalten können.
Nur: Die Gesichtserkennung ist kein effizientes Fahndungsmittel. Sie ermöglicht keine Verhaftung im Handumdrehen, weil eben nicht unter jeder Videokamera ein Festnahmetrupp stehen kann. Außerdem bräuchte man für ein derartiges Konzept viel mehr von der Polizei kontrollierte Kameras, diese bräuchten eine viel bessere Bildauflösung. Die Masse der aktuell aktiven Überwachungskameras ist optisch einfach zu schlecht. Es müssten also erst einmal Milliarden Euro investiert werden.
Das wird aber keine halbwegs rationale Regierung tun, da Gesichtserkennung ja sehr leicht ausgehebelt werden kann. So gibt es bereits Manipulationsbrillen, die der Kamera vorgaukeln, man sei eine andere Person – zum Beispiel der Innenminister.
Natürlich weiß das alles auch Thomas de Maizière. Aber so ein Modellversuch vor der Bundestagswahl bringt gute Publicity. Und wenn einige Kritiker aus Polemik oder Unkenntnis das Bild an die Wand malen, dass es bald Bewegungsbilder der ganzen Bevölkerung gebe, ist das für de Maizière auch gut. Hauptsache, man spricht von seinem mutigen Modellversuch. Die erwartbar ernüchternden Ergebnisse kommen ja erst lange nach der Wahl.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen