Kommentar Geheimhaltungsfrist beim VS: NSU-Bericht bleibt 120 Jahre geheim
Bis ins Jahr 2134 ist ein Bericht des Verfassungsschutzes über hessische NSU-Kontakte als geheim eingestuft. Das ist das Gegenteil von Aufklärung.
N otiz an die Kinder meiner Kindeskinder: Bitte am 20. November 2134 im Space-Archiv per Weltraumanfrage den „Abschlussbericht zur Aktenprüfung“ des hessischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2014 anfragen. Denn der Bericht über NSU-Kontakte der lokalen Neonaziszene soll für schlappe 120 Jahre geheim bleiben. Geheimhaltungsstufe bis in den Tod-Tod.
Lückenlose Aufklärung versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel einst den Betroffenen. Einen Stinkefinger und einen Tritt in die Magengrube gibt es in Wirklichkeit. Das Schlimmste ist dabei, dass Dinge wie die skandalöse Geheimhaltungsfrist kaum noch jemanden überhaupt aufregen. Denn sie ist nur eine Frechheit unter unzähligen des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex. Ein Amt, in dem Akten mit möglichem Bezug zu einer rechtsterroristischen Mordserie geschreddert werden („Aktion Konfetti“), ist wohl eher am Gegenteil von Aufklärung interessiert.
Der nun zurückgehaltene Bericht soll 30 Belege über Verbindungen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zur hessischen Neonaziszene zwischen 1992 und 2012 enthalten. Er könnte wichtige Antworten auf die Fragen liefern, wie der NSU Tatorte auswählte und wie er dabei auf die Unterstützung der lokalen Neonaziszene zurückgriff. Antworten, die insbesondere in Hessen interessant sind, wo Verfassungsschützer Andreas Temme, V-Mann-Führer des NSU-Kontakts Benjamin G., sich zum Tatzeitpunkt in genau jenem Internetcafé in Kassel aufhielt, wo Halit Yozgat 2006 ermordet wurde. Herausgekommen ist bereits im hessischen Untersuchungsausschuss, dass das dortige Landesamt schon 1999 Hinweise auf „National Sozialistische Untergrundkämpfer Deutschlands“ hatte.
Also, liebe Kinder meiner Kindeskinder, kurz zur historischen Einordnung: Mit dem Dokument lässt sich das Wirken und die Wirkung von Rassismus in der spätkapitalistischen Gesellschaft historisch-soziologisch einordnen. Interessant dürfte dabei insbesondere die gesellschaftliche und staatliche Nichthaltung sein. Es geht um nicht weniger als die gesellschaftliche und staatliche Verantwortung für Rechtsterrorismus und vielleicht sogar um das Verwickeltsein darin, um dessen Deckung oder Nichtaufdeckung. Seid froh, dass ihr diesen ganzen Nationalstaatenquatsch hinter euch habt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen