Kommentar Flüchtlingsproteste: Wider die guten Ratschläge
Der Protest der Asylbewerber war erfolgreich. Noch nie hat der Staat der Flüchtlingsbewegung auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet.
D ie Kirche und der Staat, Grüne und Anarchisten: Es war eine seltsame Allianz, die da in den letzten Monaten meinte, den Flüchtlingen hineinreden zu müssen, wie sie zu protestieren haben.
Tatsächlich haben sich die streikenden Asylbewerber seit Beginn ihrer Aktionen im März für Methoden entschieden, die sonst in Diktaturen üblich sind. Sie nähten sich die Münder zu und schnitten sie wochenlang nicht wieder auf; über Monate verweigerten sie die Nahrungsaufnahme, Hunderte Kilometer marschierten sie durchs Land, seit Wochen hocken sie jetzt in der Kälte auf zwei zentralen Plätzen in der Hauptstadt.
Man könne „nicht an die Menschenrechte appellieren, indem man sich selbst verletzt“, predigte ihnen schon früh der bayerische evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dies sei „bei aller Verzweiflung nicht der richtige Weg“. Die Stadt Würzburg verbot den meist iranischen Asylbewerbern „zum Schutz der Öffentlichkeit“, sich mit ihren zugenähten Mündern in der Innenstadt zu zeigen, scheiterte damit allerdings vor Gericht.
Auch Linksradikale aus der Unterstützerszene hielten Abstand: Ihnen war die selbstzerstörerische Disziplin der Dauerdemonstranten suspekt, sie erinnerte sie an die Aktionen von fanatischen Kadern autoritärer Parteien. Und ähnlich wie einige Wohlfahrtsverbände distanzierte sich die Grünen-Politikerin Simone Toller „entsetzt“, als sie sich im Frühjahr erstmals die Münder zunähten: Sie lehne „jedes Mittel ab, was einem selber Schmerzen zufügt“, sagte Toller, denn dies mache „jeden politischen Dialog für die Sache aller Flüchtlinge unmöglich“.
Viel falscher konnte die Frau nicht liegen. Das Gegenteil ist der Fall.
Von der großen Politik beachtet
Am Donnerstag trafen die protestierenden Flüchtlinge in einer eigens angesetzten Sitzung die Spitzen des Innenausschusses des Bundestags. Eingeladen hatte sie der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach. Vor zwei Wochen hatte sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit ihren Forderungen befasst. Die Flüchtlinge hatten Vertreter des Menschenrechtsausschusses getroffen und waren von der Staatsministerin Maria Böhmer empfangen worden.
Was bei all dem politisch am Ende herauskommen mag, sei dahingestellt. Aber fest steht jetzt schon: Noch nie hat der Staat der Flüchtlingsbewegung auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Und diese Aufmerksamkeit hat sie nicht trotz, sondern wegen der selbstzerstörerischen Formen des Protests bekommen.
Denn in Deutschland gibt es seit über 15 Jahren Selbstorganisationen von Flüchtlingen. Ihre wichtigsten Forderungen sind dieselben wie die der aktuell Streikenden: Keine Residenzpflicht, keine isoliertes Leben im Lager, keine Sachleistungen, keine Arbeitsverbote. Von einer Abschaffung dieser Bestimmungen würden über 100.000 Geduldete und Asylbewerber im Land profitieren. Doch alle früheren Aktionen haben kaum jemand interessiert; die Wahrnehmungsschwelle der Mainstream-Medien und der großen Politik vermochten sie nie zu überschreiten.
Die Erpressung der Mächtigen
Dass dies nun anders ist, ist schön für die Protestierenden, aber eine totale Blamage für die politischen Vermittlungsinstanzen. Medien, Parteien, Institutionen der Zivilgesellschaft und bestimmte Teile des Staats sind auch dazu da, die Interessen gesellschaftlicher Randgruppen aufzunehmen und ins Zentrum der politischen Aushandlung zu tragen. So sollen auch die berücksichtigt werden, die keine Lobby haben und weit weg sind vom Staat sind – dessen Gewalt aber trotzdem unterworfen sind.
Funktioniert dieser Mechanismus nicht, bleibt ihnen im Zweifelsfall nur noch die Erpressung der Mächtigen – entweder durch Gewalt oder durch die moralische Bloßstellung, die es bedeuten würde, wenn ihr Hungertod oder ihre Selbstverstümmelung einfach hingenommen würde. Demokratien zeichnet aus, dass niemand es nötig haben sollte, diesen Weg zu beschreiten. Die protestierenden Iraner waren es aus ihrer Heimat hingegen gewohnt, so mit dem Staat umgehen zu müssen. Dass sie damit auch hier richtig lagen, wollten viele ihrer Kritiker nicht wahrhaben.
Doch damit Deutschland anfängt, sich für die Rechte von Flüchtlingen zu interessieren, müssen die erst bis zum Äußersten gehen.
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