Kommentar Flüchtlingscamps: Rückfall in trennende Konzepte
Flüchtlinge haben sich bundesweit gegen staatliche Gängelung solidarisiert. Die mediale Aufmerksamkeit war groß. Jetzt zerfällt die Bewegung.
E s lief so richtig gut. „Tagesschau“, Twitter-Hashtag-Hitliste, Spenden in sechsstelliger Höhe, Empfang im Bundestag. Der Erfolg der Flüchtlingsstreiks, die sich im letzten Jahr dominoartig über ganz Deutschland verbreitet hatten, war enorm.
Die Flüchtlinge verweigerten sich kollektiv der Disziplinierung durch den Staat. Sie entkamen dem zermürbenden, monotonen Leben im Lager, der aufgezwungenen Isolation, und „höhlten rassistische Gesetze aus“, wie sie sagten. Und hielten dafür den Kopf hin. Denn viele der Asylsuchenden und Geduldeten wurden von den Ausländerbehörden für die Regelverstöße bestraft.
Ihren Forderungen sind sie aber nicht näher gekommen. Die Residenzpflicht ist bundesweit immer noch in Kraft. Lagerzwang, Essenspakete und faktische Arbeitsverbote sind vielerorts noch immer gängige Praxis.
Im Juni bauten deshalb die „Non-Citizens“, die „Nicht-Bürger“, wie sich eine Fraktion der protestierenden Flüchtlinge nennt, in München ein Protestcamp auf. Es dürfte sich, grob geschätzt, etwa um das fünfzehnte dieser Art seit Anfang des letzten Jahres gehandelt haben. Sie stellten das Trinken ein und verlangten von der CSU-geführten Landesregierung, ihnen politisches Asyl zu gewähren. Sofort.
Es lief gar nicht gut. Viele brachen zusammen und mussten ins Krankenhaus. Die CSU fand es angebracht, den Protest der übrig gebliebenen mit Gewalt auflösen zu lassen. Sie schickte Festnahmeeinheiten der Polizei.
Marsch nach München
In diesen Tagen sammeln sich die Non-Citizens, die per Definition alle bereits anerkannten Asylbewerber als Subjekte des Protests ausschließen, in Franken. Dort, wo der 600-Kilometer-Marsch im letzten Oktober begonnen hatte. In einer Woche wollen sie wieder marschieren. Zurück nach München. Und genau dort weitermachen, wo die Polizei sie kürzlich gestoppt hat.
Auch die Berliner Flüchtlinge, die seit fast einem Jahr in der Innenstadt campieren, denken immer lauter über einen neuen Marsch nach. Sie wollen jetzt zu Fuß nach Brüssel laufen. Und dann? Per Floß zur UN nach New York?
Das Berliner Camp gehört in der politischen Landschaft Kreuzbergs fast schon zum Inventar. Gesprochen wird über das Camp in letzter Zeit vor allem, wenn es um die Frage nach einer möglichen Räumung geht, die unter anderem rechte Medien und Politiker verlangen. Auch seitens der Anwohner und der türkischen Gemeinde hat sich der Druck verstärkt. Die Flüchtlinge sind aus der Offensive, in der sie die Nachrichten bestimmten, in die Defensive geraten. Statt ihre Forderungen weiter verfolgen zu können, müssen sie jetzt Abwehrkämpfe führen.
Ermüdete Öffentlichkeit
Die werden sie nicht dadurch gewinnen, dass sie die Aktionen des letzten Jahres einfach wiederholen oder weiterführen. Auch nicht, wenn sie eine Nummer größer ausfallen. Denn die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie können sie nicht außer Kraft setzen. Kein Missstand ist groß genug, als dass die Öffentlichkeit seiner unveränderten Beklagung nicht früher oder später müde würde. Das gilt auch für die Flüchtlingsproteste.
Immer mehr Aufwand ist nötig, um sich in den Schlagzeilen und auf der politischen Agenda zu halten. Doch das wird schwierig: Die Ressourcen einer Bewegung, in der kaum einer Geld verdienen oder sich frei bewegen darf, sind denkbar knapp. Und eine Strategie, die Proteste immer spektakulärer zu gestalten, wird an physische Grenzen stoßen.
In den letzten Wochen kamen immer neue Orte des Protests hinzu: Etwa Bitterfeld, Hamburg, Eisenberg, Eisenhüttenstadt oder Stuttgart. Doch es gelingt immer weniger, das Nebeneinander der Aktionen zu überwinden, sie kollektiv zueinander in Beziehung zu setzen, die einzelnen Fraktionen und ihre Vorhaben zentral zu bündeln.
Die Aufmerksamkeit für ihren Widerstand galt nicht nur der Radikalität ihrer Aktionsformen, sondern auch ihrer Neuheit. Es liegt in der Natur der Sache, dass es damit irgendwann vorbei ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich ihre in den letzten 18 Monaten gewonnenen Stärken, die diskursiven Verschiebungen, die entstandenen Netzwerke, nicht konsolidieren oder gar ausbauen ließen.
Ein Schritt aufeinander zu
Die Flüchtlinge waren am stärksten, bevor die Fraktionierungen einsetzten. Sie stammen aus verschiedenen Ländern und Ethnien, leben in ganz Deutschland verstreut und haben unterschiedliche Aufenthaltstitel. Die gemeinsamen Proteste waren nicht nur ein Schritt in die Öffentlichkeit, sondern auch aufeinander zu. Darauf könnte, ja müsste ihre Bewegung aufbauen.
Stattdessen haben sich tiefe Risse gebildet. Schon wenige Tage nach dem Marsch nach Berlin spaltete sich die erste Fraktion ab und zog zum Brandenburger Tor. Diese Fragmentierungen setzten sich fort: Entlang ethnischer – wie Iraner vs. Subsaharis – und strategischer Linien – autonome Zellen vs. gemeinsame Organisation – zerfledderte die von ihnen selbst so getaufte „Refugee Revolution“. Das macht es jenen leicht, die sie ignorieren wollen.
Flüchtling zu sein ist auch eine zugewiesene Zwangsidentität. Einen individuellen Umgang damit zu suchen, ist legitim, manchmal gar lebenswichtig. An der Notwendigkeit, das Gemeinsame zu suchen, kommen sie trotzdem nicht vorbei. Möglich ist das ganz ohne Verrenkungen: Denn die rechtliche Degradierung, der der Staat sie alle unterwirft, ist im Wesentlichen die gleiche. Die Debatten aller Teile der Flüchtlingsbewegung liefen deshalb in den letzten 15 Jahren auch auf die immer gleichen Forderungen hinaus: voller Arbeitsmarktzugang, keine Lager, Residenzpflicht und Sachleistungen, Bleiberecht.
Auch wenn sie auf Erfolge aus den letzten Jahre aufbauen können: Die Erfüllung dieser Forderungen ist nicht ohne Weiteres zu haben. Die politische Großwetterlage wird daran in absehbarer Zeit nichts ändern. Umso mehr schadet den Flüchtlingen eine Zersplitterung. Ob der für viele verführerische Rückfall in ethnische Fraktionen oder die Etablierung neuer, trennender Konzepte wie jenem des „Non-Citizen“: All dies macht aus einer großen Bewegung viele kleine. Besser wäre das Gegenteil.
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