Kommentar "Ehrenmord"-Urteil: Jenseits der Familientragödie
Der Urteilsspruch im Fall Morsal Obeidi erscheint wie der kathartische Schlussakt einer Tragödie. Es ist aber vielmehr das Drama eines jungen Mannes mit übersteigertem Männlichkeitsbild.
Der Urteilsspruch des Hamburger Landgerichts im Fall Morsal Obeidi erscheint wie der kathartische Schlussakt einer Tragödie. Alle Schuld liegt bei Bruder Ahmad, seine zahlreichen Beeinträchtigungen zählen nicht, er wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil wirkt juristisch korrekt: Eine narzisstische Störung ist nicht automatisch schuldmindernd, ebenso wenig sind es archaische Ehrbegriffe.
So weit die Rechtslage. Die Frage an die Politik aber lautet, ob dieses Drama mit der Zwangsläufigkeit eines angekündigten Todes so hätte ablaufen müssen. Ahmad Obeidi hat eine schwierige Geschichte hinter sich, Kleinwuchs, Testosteronbehandlung, Gewalt in der Familie, Zwangsheirat, er war der Polizei als gewalttätig bekannt und leidet unter einer psychischen Störung. In seinem Selbstbild muss ein Mann groß und stark sein, er aber ist klein und fühlt sich gedemütigt, weil er nicht einmal seine Schwester kontrollieren kann. Also pumpt er seine Persönlichkeit auf, und zwar mit Gewalt. Das altertümliche Ehrkonzept ist dafür eine gefundene Rechtfertigung.
Diese Verknüpfung eines kulturellen Motivs mit einer gestörten Persönlichkeit bietet aber auch einen Ansatzpunkt für die Hilfssysteme: Man braucht nicht staunend vor dem Ablauf einer "afghanischen Tragödie" zu stehen. Es ist vielmehr das Drama eines jungen Mannes mit übersteigertem Männlichkeitsbild. Solche Männer kennt auch die Mehrheitsgesellschaft. Dort üben sie in ihrem Kontrollbedürfnis häusliche Gewalt gegen Frau und Kinder aus, im Fall der Ehrenmorde ist nur der Opferkreis erweitert und das Tatmotiv durch den Ehrbegriff verbrämt. Beides sind keine unausweichlichen "Familientragödien".
Morsal Obeidi hat sich wie viele Opfer häuslicher Gewalt verhalten: Sie hat ihre Anzeigen gegen den gewalttätigen Bruder immer wieder zurückgezogen. Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat nun bemerkt, dass man dagegen etwas tun kann, und angeordnet, in solchen Fällen weiterzuermitteln. Die Frage bleibt, welche sozialen Angebote für verwirrte Jungs mit verzerrtem Männlichkeitsbild parat stehen. Zusehen und zum Schluss in den Knast stecken? Das hieße: dem Drama seinen Lauf lassen - Theater statt Politik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mögliches Ende des Ukrainekriegs
Frieden könnte machbar sein
Jens Spahn
Da bringt sich einer in Stellung
Spendenrekord im Wahlkampf
CDU bekommt fast zehnmal so viele Großspenden wie SPD
Vor der Bundestagswahl
Links liegen gelassen
Wahlprogramm von CDU/CSU
Von wegen Maß und Mitte
Neue Altkleider-Verordnung der EU
Gut fürs Gewissen, mehr nicht