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Kommentar EU-AbschiebepraxisWo bleibt die Menschlichkeit?

Kommentar von Frank Dörner

Humanität wurde zu einem politischen Lippenbekenntnis degradiert. Die Menschlichkeit hat aus der europäischen Außenpolitik selbst längst die Flucht ergriffen.

I m März hat der Weltsicherheitsrat beschlossen, sich militärisch zum "Schutz der Zivilisten" im libyschen Krieg zu engagieren. Seitdem wurde immer wieder über die Rolle diskutiert, die Muammar al-Gaddafi übernommen hat, um Europa zur Festung gegen Flüchtlinge zu machen.

Zynisch erscheinen Begriffe wie "Schutz von Zivilisten" - in den Mund genommen von Regierungen, die Millionen an das Regime Gaddafis zahlen, um die Küsten Europas von Flüchtlingen aus Nordafrika freizuhalten. Welchen Preis ebendiese Zivilisten in der Realität bezahlen, konnte bisher nur vermutet werden. Wer mit den Flüchtlingen spricht, der ist schockiert.

Ärzte ohne Grenzen hat in Auffanglagern in Lampedusa und Malta gearbeitet und in den vergangenen Jahren viele Schicksale gehört. 2009 zogen wir uns zurück, als sich die Lager leerten, nachdem die Flüchtlinge "erfolgreich" im Zuge des Rücknahmeabkommens mit Italien nach Libyen zurückgeschickt wurden. Dass dies nicht ohne Entrechtung und Erniedrigung vonstatten ging, schien allen Beteiligten und bislang auch dem EU-Parlament offenbar akzeptabel.

Dass diese Abschiebung jedoch seit langem institutionalisierte Folter bedeutet, wird durch Berichte der Opfer gegenüber unseren Mitarbeitern deutlich, die mit Hunderten Flüchtlingen in einem Auffanglager an der tunesischen Grenze gesprochen haben.

Flüchtlinge systematisch gefoltert

Afrikanische Flüchtlinge, die über Libyen ihren Weg nach Europa suchen - viele von ihnen sind bereits aus Somalia, Eritrea oder der Elfenbeinküste geflohen -, werden Opfer eines unmenschlichen Foltersystems. Häufig werden sie schon nach der Einreise nach Libyen willkürlich festgenommen, misshandelt und erpresst. Von Libyen aus zahlen sie Schmuggler, die sie auf dem Seeweg nach Europa bringen sollen.

Werden sie von Booten der aus Europa finanzierten "Grenzschutzbeamten" aufgegriffen und zurück nach Libyen transportiert, landen sie erneut in Internierungslagern, wo sie systematisch gefoltert werden - durch Elektroschocks, Schläge auf Genitalien, Kopf und Körper, durch sexuellen Missbrauch und andere unvorstellbare Erniedrigungen.

Bild: dpa

FRANK DÖRNER ist Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen. Ärzte ohne Grenzen behandelt seit Februar Opfer des Krieges in Libyen und betreut u. a. Flüchtlinge in Tunesien und Italien.

Um aus dem System "auszubrechen", müssen sie sich freikaufen - der Transport zur nächsten Western-Union-Filiale und die Telefonate mit den Familien, um den Geldtransfer zu veranlassen, sind dabei inklusive. Eine medizinische Versorgung leider nicht.

All dies ist Ausdruck einer beschämenden europäischen Außenpolitik, die "uns" vor "denen" schützen soll. Diese Politik setzt auf Abschreckung und nimmt dafür zynischerweise den Tod von Zivilisten billigend in Kauf. Wie zum Beweis forderte das Europäische Parlament in einer Empfehlung vom Januar dieses Jahres den Rat zu den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zwischen der EU und Libyen nachdrücklich auf, "sicherzustellen, dass das Rückübernahmeabkommen mit Libyen nur für illegale Einwanderer in Betracht gezogen werden könnten, wodurch diejenigen ausgeschlossen würden, die sich als Asylbewerber, Flüchtlinge oder Personen, die Schutz benötigen, bezeichnen, und betont erneut, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung für alle Menschen gilt, die der Gefahr der Todesstrafe, unmenschlicher Behandlung oder Folter ausgesetzt sind."

Gleichzeitig nimmt das Parlament zur Kenntnis, dass Libyen "ungeachtet der fortdauernden autoritären Herrschaft und der systematischen Verletzung internationaler Übereinkommen zu Menschenrechten und Grundfreiheiten" als "Partner der EU" fungiert - insbesondere hinsichtlich der Migrationspolitik.

Während die Bundesregierung zum Thema Libyen nicht müde wird, die humanitären Prinzipien und den Flüchtlingsschutz zu betonen, müssen die Flüchtlinge - also die "Zivilisten" - indes täglich hoffen, das vermeintlich rettende Europa zu erreichen, ohne unterwegs gefoltert zu werden, zu verdursten oder zu ertrinken - unter den Augen der Kriegsparteien und einer enormen medialen Öffentlichkeit. Humanität wurde degradiert zum politischen Lippenbekenntnis. Die Menschlichkeit hat aus der europäischen Außenpolitik selbst längst die Flucht ergriffen.

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2 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • JK
    Jürgen Kluzik

    "Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von ertrunkenen Flüchtlingen berichtet wird, die auf dem Weg von Afrika nach Spanien umgekommen sind. ... Dass Menschen zu Tausenden im letzten Jahrzehnt bei ihrer Flucht über die Meerenge von Gibraltar gestorben sind, wird eines Tages als Massenverbrechen gewertet werden. Die Verantwortlichen für die Toten, daran gibt es schon heute keinen Zweifel, sind Beamte, Politiker, Parteien und Wähler der Europäischen Union."

     

    Salvatore Pittà und Anja Zickuhr: "Marokko Transit NON Stop"; Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, Heft 9; Assoziation A; 2002

     

    All das wissen wir schon längst. Das Problem ist, dass es nur schleichend langsam in die Erweiterung des öffentlichen Bewußtseins dringt.

  • JK
    Jürgen Kluzik

    Zitat: "Humanität wurde degradiert zum politischen Lippenbekenntnis. Die Menschlichkeit hat aus der europäischen Außenpolitik längst die Flucht ergriffen." Frank Dörner

     

    Die Menschlichkeit wurde vor langer langer Zeit erstickt durch die "völkerrechtlichen Normen", die Staatsbesitzern absolute Souveränität im eigenen Machtbereich garantieren; also auch das Recht zu foltern und zu morden. Daher ist Menschlichkeit in der europäischen Außenpolitik noch nicht vorhanden. Als Fakt ist das in der Bundesrepublik seit 1967 allgemein bekannt. Und durch die jüngsten Ereignisse ist es nun einer breiteren Öffentlichkeit bewußt geworden.